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in: Günther Maihold / Stefan Mair / Melanie Müller / Judith Vorrath / Christian Wagner (Hg.): Deutsche Außenpolitik im Wandel. Unstete Bedingungen, neue Impulse, SWP-Studie 15, September 2021, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, S. 105-108.

AUSZUG:

An Deutschlands Europapolitik werden hohe Erwartungen herangetragen. Deutlich sichtbar war dies vor Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft (1.7.–31. Dezember 2020) durch die Bundesregierung. Dabei erweisen sich die auf Berlin gesetzten Hoffnungen als äußerst heterogen: Während die Niederlande von Deutschland Unterstützung bei der Einhaltung der Haushaltsdisziplin erwarten, erhoffte sich Italien mehr Solidarität und Verständnis für seine Finanzlage. Ähnlich verhält es sich beim Thema Asyl und Migration.

Welcher Position sollte sich Deutschland anschließen? Dem Vorschlag Dänemarks, zukünftig Asylanträge vor der Einreise zu bearbeiten, der Entscheidung Griechenlands, die Türkei zum sicheren Drittstaat zu machen, oder dem Vorhaben Italiens, Asylsuchende im Schengenraum weiterziehen zu lassen? Schließlich gibt es noch den Plan der Europäischen Kommission, die Asylanträge in die Hand einer EU-Agentur zu geben. […]

Die EU ist nicht Europa – Die EU-Erweiterung kein Selbstläufer

Eine Neujustierung scheint zunächst bei der Verwendung des Begriffs »Europa« angebracht. Denn immer häufiger wird er gleichbedeutend mit der EU verwendet, was jedoch Fehleinschätzungen mit sich bringt. So erweckt dieser Sprachgebrauch den Anschein, als ob die EU das einzige Integrationsprojekt wäre und es keine Alternative zu deren Vertiefungs- und Erweiterungsstrategie gäbe. Doch streben einige europäische Staaten, so die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), Island, Schweiz, Liechtenstein und Norwegen, keine EU-Mitgliedschaft an. 

Zu diesem Kreis der wirtschaftlich potenten Länder zählt nun auch das Vereinigte Königreich. Daneben lehnen einige EU-Mitglieder zusätzliche Integrationsschritte ab, mit der Folge, dass eine Fortsetzung der Vertiefungsagenda weitere Austritte wie den Polens nach sich ziehen könnte. Zudem gibt es Verstöße gegen die EU-Verträge, wodurch ein Diskurs über Ausschlüsse aus der Union aufgekommen ist, wie im Falle Ungarns. Schließlich streben nur noch solche Länder einen EU-Beitritt an, die sich davon eine Lösung ihrer wirtschaftlichen Krisen oder einfach mehr Sicherheit erhoffen, wie etwa die Staaten des westlichen Balkans. […]

Stärkung der intergouvernementalen Zusammenarbeit innerhalb der EU-27

Der multilaterale Ansatz zeigt sich bereits durch die  intergouvernementale Zusammenarbeit der EU-27, etwa in der Außenpolitik, denn die Kompetenzen in diesem Politikfeld liegen bei den Nationalstaaten. Die Außen- und Sicherheitspolitik der Union fußt auf Konsultationen und ist auf einstimmige Beschlüsse im Europäischen Rat angewiesen. Zudem gibt es jenseits der supranationalen Ebene Beispiele für multilaterale Kooperationen innerhalb der EU, die teilweise sogar institutionalisierte Formate haben: die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, die Visegrád-Gruppe oder der Nordische Rat. 

Diese Kooperationsformen sollten als Beitrag zur europäischen Integration gewürdigt werden, auch wenn sie keine Vergemeinschaftung nach sich ziehen. Schließlich folgt auch das Konzept der »differenzierten Integration« dem multilateralen bzw. intergouvernementalen Ansatz. Ihm zufolge können sich Mitglieder der Europäischen Union vertraglich auf eine Zusammenarbeit auch außerhalb des EU-Rechts einigen. Beispiele dafür sind die Anfänge des Schengen-Vertrags, der ESM-Vertrag, der Fiskalpakt und der Euro-Plus-Pakt. […]

Umgang mit dem EU-Nachbarschaftsraum (Westbalkan, Osteuropa)

Die EU-Erweiterungspolitik hat bei den Beitrittskandidaten große Erwartungen geweckt, so dass die betreffenden Staaten, wie Albanien, Serbien, Montenegro oder Nordmazedonien, nun ihre Aufnahme einfordern. Der Druck, mit dem das geschieht, lenkt davon ab, dass sie trotz eines rund zwanzig Jahre währenden Beitrittsprozesses die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllen: Sie verfügen weder über stabile demokratische Institutionen noch über eine funktionsfähige Marktwirtschaft. Gegen einen baldigen EU-Beitritt spricht zudem ihre mangelnde Bereitschaft zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen in ihrer Region. Daran hat auch der »Berliner Prozess« nicht viel ändern können, den die Bundesregierung 2014 initiiert hat. Die deutsche Europapolitik sollte hier umsteuern und deutlicher machen, dass diese Staaten ohne eigene Anstrengungen für ein friedliches Zusammenleben keinen Platz in der EU haben.

Die mit der EU assoziierten Staaten ohne Beitrittsperspektive (Ukraine, Georgien und Republik Moldau) sind noch eng mit dem postsowjetischen Raum verflochten, mit der Organisation für Demokratie und Wirtschaftsentwicklung (GUAM) und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Spannungen zwischen der EU und Russland wirken sich deshalb auf die Stabilität dieser Länder aus. Dies zeigt sich in den Territorialkonflikten in Georgien und in der Ukraine. Hier wären Konzepte hilfreich, die überlappende Integrationsräume zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EWU, Russland, Belarus und Armenien) zulassen. Wurde dies im Fall der Ukraine noch ausgeschlossen, war es beim EU-Partnerschaftsabkommen mit Armenien bereits realisierbar. Die deutsche Europapolitik könnte Brüssel dazu bewegen, nach dem Beispiel Armeniens auch den anderen Ländern eine solche Zusammenarbeit zu ermöglichen.