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Sabine Riedel

Wege der Europäischen Union aus der Politikverflechtungsfalle

AUSZUG:

PROBLEMSTELLUNG UND EMPFEHLUNGEN

Die Europäische Union (EU) ist durch die Flüchtlingskrise in eine Situation geraten, in der Grundsatzfragen der Europapolitik aufgeworfen werden. Während die einen »mehr Europa« fordern, machen die anderen Brüssel für die entstandenen Probleme verantwortlich. Diese Konfrontation schadet, da sie nicht auf Lösungen hin orientiert ist, sondern einen politischen Richtungsstreit entfacht. 

Um diesen Konflikt zu analysieren, bieten sich zwei Ansätze an, das Modell der EU als Mehrebenensystem und das Phänomen der Politikverflechtungsfalle. Auf dieser Basis lässt sich der Streit über einen gemeinsamen Kurs bei Grenzschutz, Migration und Asyl als Konflikt zwischen der nationalen Ebene und der Unionsebene über politische Zuständigkeiten fassen. Damit verläuft er nicht entlang den Schlagwörtern »proeuropäisch« und »antieuropäisch«.

Vielmehr gehört das Ringen um diese Kompetenzen zum politischen System der EU. Es wurde ihm in die Wiege gelegt, weil die europäische Integration als Prozess konzipiert wurde, in dessen Verlauf viele Kompetenzen zwischen den beiden Ebenen geteilt worden sind. In der Handels- und der Währungspolitik dagegen haben die EU-Mitglieder weitgehend auf ihre Souveränitätsrechte verzichtet, während sie diese unter anderem in der Außen- und Sicherheitspolitik verteidigt haben.

Grenzschutz, Migration und Asyl können als  Querschnittsaufgaben betrachtet werden, die mehrere Politikfelder umfassen. Sie berühren außen- und sicherheitspolitische Themen ebenso wie Fragen der Sozial- und der Wirtschaftspolitik oder Aufgaben im Bildungs- und im Gesundheitsbereich. Somit sind alle Entscheidungsebenen tangiert, die supranationale, die nationale und die regionale Ebene. Wie der  Sozialwissenschaftler Fritz W. Scharpf schon vor über 30 Jahren zeigte, können solche verknüpften Mehrebenensysteme in eine »Verflechtungsfalle« geraten, die sie in Krisen handlungsunfähig macht. 

Wie haben die einzelnen Entscheidungsinstanzen im EU-Mehrebenensystem auf die Flüchtlingskrise reagiert? Haben sie die Zuständigkeiten weiter aufgeteilt oder beschlossen, bereits geteilte Kompetenzen zu entflechten? Für eine Entflechtung stehen im Wesentlichen drei Optionen zur Verfügung: Die ersten beiden umfassen entweder eine Übertragung nationaler Zuständigkeiten auf EU-Institutionen oder eine  Rückverlagerung von Kompetenzen der Union auf die Mitgliedstaaten. Eine dritte Option besteht in einer Entkoppelung geteilter Zuständigkeiten. Darin wird der Status quo beibehalten, so dass keine Vertragsänderung notwendig wird.

Die Unionsebene hat für alle drei Bereiche – Grenzschutz, Migration und Asyl – Initiativen für eine Kompetenzübertragung zu ihren Gunsten ergriffen. Hierzu gehört die Gründung der Europäischen Agentur für IT-Großsysteme (eu-LISA) im Jahre 2011 zur elektronischen Erfassung sämtlicher Ein- und Ausreisen an den EU-Außengrenzen. Auch die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, als Frontex bekannt, soll künftig eigenmächtig die EU-Außengrenzen überwachen können. Schließlich plant Brüssel schon seit der Migrationsagenda vom 13. Mai 2015 die Gründung einer supranationalen Asylagentur mit weitreichenden Kontrollrechten. An diesem Vorschlag wird im neuen Migrations- und Asylpaket vom 23. September 2020 festgehalten. 

Alle Großprojekte scheiterten bisher daran, dass die nationalen Regierungen ihnen die notwendige Zustimmung versagten. So wehrte sich eine Mehrheit im Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs dagegen, dass Asylsuchende nach einem festen Schlüssel umverteilt werden. Deshalb schlägt die Kommission in ihrem neuen Migrations- und Asylpaket eine Flexibilisierung vor, nicht ohne sich entsprechende  Zuständigkeiten zu sichern. Doch die meisten Mitgliedstaaten befürchten Steuerungsverluste und unkalkulierbare Folgewirkungen für ihre Sozialsysteme. Erfolgreich war Brüssel bislang nur mit einer Mehrheitsentscheidung im Rat am 22. September 2015, 120 000 Asylsuchende aus Griechenland und Italien umzuverteilen. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) musste sich auch die Visegrád-Gruppe diesem Beschluss beugen.

Die nationale Ebene wurde erst mit Beginn der Migrationskrise initiativ. Einige Mitgliedstaaten führten Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen ein, so etwa Frankreich, Deutschland, Österreich, Schweden, Norwegen und Dänemark. Diese Maßnahmen sind vom Schengener Grenzkodex gedeckt, weil der Grenzschutz in nationalstaatlicher Verantwortung liegt. Erst 2016 hat die Unionsebene per Verordnung die Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf zwei Jahre begrenzt. Soll diese Frist verlängert werden, muss Brüssel formal zustimmen, so dass hierdurch ein neues Spannungsfeld entstanden ist.

Es gibt noch eine dritte Option für die Entflechtung geteilter Zuständigkeiten, nämlich die Entkoppelung. Auf der Basis der vertraglich festgelegten Arbeitsteilung könnte die Zusammenarbeit besser koordiniert werden. Da diese Option am Status quo orientiert ist, schafft sie kein neues Konfliktpotential. Dieser Weg wurde bisher kaum beschritten. Man könnte allerdings das EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016 als einen solchen Versuch betrachten, obwohl Rat und Kommission damit beabsichtigten, außenpolitische Kompetenzen an sich zu ziehen. Doch der EuGH stellte am 28. Februar 2017 anlässlich einer Klage von Asylsuchenden fest, dass er in diesem Fall nicht zuständig ist, weil nicht die EU-Organe, sondern die Mitgliedstaaten den Vertrag mit der Türkei geschlossen haben.

Ähnliches gilt für die Politikbereiche Grenzschutz, Migration und Asyl. Zwar darf Brüssel im Rahmen des Europarechts initiativ werden, doch müssen die EU-Verordnungen stets die Kompetenzen der nationalen Ebene respektieren und das Subsidiaritätsprinzip beachten, das auch der regionalen und der kommunalen Ebene eine politische Mitsprache sichert. Demnach müsste die Unionsebene vertragsgemäß so lange Grenzkontrollen innerhalb der EU akzeptieren, bis die Außengrenzen des Schengen-Raums sicher sind. Diese Aufgabe sollte in der Hand nationaler Sicherheitsorgane bleiben, weil Frontex trotz Aufstockung seiner materiellen und personellen Ressourcen niemals den Herausforderungen an den Schengen-Außengrenzen gewachsen wäre.

Die Entkoppelung geteilter Zuständigkeiten könnte auch die Politikbereiche Migration und Asyl aus der aktuellen Krise führen. Dabei muss sich die Kommission eingestehen, dass es nicht ihre Aufgabe sein kann, neue Arbeitskräfte aus Drittstaaten zu rekrutieren und Asylsuchende als stille Arbeitsreserve zu betrachten. Diese Ziele werden im neuen Migrations- und Asylpaket fortgeschrieben. Die Suche nach Arbeitskräften sollte in der Hand nationaler Arbeitsmärkte bleiben, weil die EU-Mitgliedstaaten durch unterschiedliche Wirtschafts- und Sozialsysteme  geprägt sind. Deren Prioritäten liegen derzeit in der Lösung immer größer werdender sozialer Probleme wie Wohnungsnot, Kinderarmut und Jugendarbeitslosigkeit. Brüssel müsste deshalb die Flüchtlingspolitik als Bestandteil nationaler Sozialpolitiken begreifen und die EU-Mitglieder bei der Bewältigung dieser Herausforderungen unterstützen.