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Sabine Riedel

Aktuelle Herausforderungen an europäische Standards des Menschenrechtsschutzes

in: Judith Könemann, MarieTheres Wacker (Hg.),
Flucht und Religion. Hintergründe, Analysen, Perspektiven, Münster, 2018, S. 6796.

EINLEITUNG

Dieser Beitrag diskutiert die aktuellen Herausforderungen an die Standards des Menschenrechtsschutzes für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) durch muslimische Zuwanderung aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus. Um die Relevanz dieses Themas besser zu verstehen, soll zunächst ein Blick zurück auf die Anfänge der modernen Staatenwelt und ihre internationale Ordnung vor rund 100 Jahren geworfen werden. Er zeigt, wie eng die Demokratisierung
von Staaten mit der Menschenrechtsthematik verknüpft ist, zu der auch die Religionsfreiheit gehört. 

Dem schließt sich die Frage an, welche internationalen Standards für die heutigen Debatten relevant sind und welche Instrumente der Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen (VN) zur Verfügung stehen. Ein weiteres Kapitel widmet sich der speziellen Entwicklung in Europa, wo durch den Europarat und seine Menschenrechtskonvention (1950) heute ein Rechtssystem entwickelt wurde, das sich nicht nur auf einem sehr hohen Niveau bewegt, sondern deren verbriefte Rechte auch einklagbar sind. 

Während sich die ersten Kapitel mit den rechtlichen Rahmenbedingungen befassen, sollen in drei weiteren Abschnitten die aktuellen Herausforderungen erörtert werden. Auch hierzu dient ein Perspektivwechsel, ausgehend von einer
spezifisch religionssoziologischen Sicht hin zur soziökonomischen Dimension der Zuwanderung. Hier stellt sich die Frage, inwieweit die aktuellen Menschenrechtsdiskurse sowohl die Migrantlnnen als auch die Aufnahmegesellschaffen in
den Blick nehmen müssen. Schließlich soll in einer abschließenden Betrachtung darüber nachgedacht werden, ob der drohende Abbau von Standards zum Menschenrechtsschutz als ein globales Phänomen zu betrachten ist. Dann stellt sich
die Frage, ob sich diese Entwicklung in Europa aufhalten lässt, ohne dass weitere Initiativen auf internationaler Ebene ergriffen werden.

1.

DER UMGANG MIT RELIGIÖSEM PLURALISMUS ANFANG DES 20. JAHRHUNDERTS

Anfang des 20. Jahrhunderts steuerten die europäischen Staaten unmittelbar auf den Ersten Weltkrieg zu, der rund 10 Millionen Tote forderte und weitere 20 Millionen zu Invaliden machte. Das Ausmaß an Vernichtung und Verwüstung auf dem europäischen Kontinent lässt sich nicht nur auf den Einsatz modernster Kriegstechnik zurückführen, sondern vor allem mit der Wirkung politischer Ideologien erklären. 

Um ihre Ziele zu legitimieren, setzten die Kriegsparteien auf den Nationalismus, der das neue Nationsmodell einer politischen Willensnation kulturalistisch umdeutete und in den Dienst rivalisierender „Zivilisationsmodelle“ stellte. Danach seien die Staatsbürger eines Landes weniger durch politische Werte miteinander verbunden. Vielmehr seien Sprache und/oder Religion die entscheidenden Kriterien einer gemeinsamen Nationszugehörigkeit. Diejenigen Bürger, die diesem offiziellen Kultur-Paradigma nicht entsprachen, wurden innenpolitisch als Minderheiten rechtlich benachteiligt oder gar diskriminiert und außenpolitisch als „Feind“ betrachtet, dessen Kulturparadigma grundsätzlich in Frage gestellt werden konnte. 

Nach Ende des Ersten Weltkrieges sollte ein Schlussstrich unter diese konfliktträchtige Ideologie gezogen werden. Dies betraf nicht nur das Deutsche Reich, das infolge des Krieges große Gebiete abtreten musste, sondern auch die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich, die infolge des verlorenen Krieges gänzlich untergegangen waren. Es bestand nämlich die Gefahr, dass auch in den Nachfolgestaaten der zerfallenden Imperien der Nationalismus weiterleben und die neuen Grenzen in Frage stellen könnte. 

Daher entschieden sich die Architekten der Friedensverträge (1919-1923) dafür, begrifflich zwischen der Staatsbürgerschaft einerseits und der kulturellen Identität andererseits zu unterscheiden. Zudem wurde die kulturelle Orientierung der Staatsbürger zugunsten einer Sprach- oder Religionsgemeinschaft nicht mehr als ein objektiv gegebenes Kriterium zur Bestimmung von Nationszugehörigkeiten betrachtet, wie es der Nationalismus bis heute behauptet. Vielmehr erhielten die Bürger durch die Pariser Vorortverträge das Recht, selbst über ihre politische, sprachliche oder religiöse Zugehörigkeit zu entscheiden. Personen, die in ihrer Heimat blieben und dabei aus kultureller Sicht in eine Minderheitenposition gerieten, wurden erstmals rechtlich vor Diskriminierungen geschützt.

Bei der Gründung neuer Nationalstaaten, die dem Modell der politischen Willensnation verpflichtet waren und später am neu geschaffenen Völkerbund partizipieren konnten, erwiesen sich die Pariser Vorortverträge als wegweisend.  […]