Suche
Close this search box.
favicon 19.4.223

Sabine Riedel

Erfahrungen aus dem Irak, Syrien, Türkei, Ägypten und Tunesien im Vergleich

AUSZUG:

PROBLEMSTELLUNG UND EMPFEHLUNGEN

Zentrales Thema dieser Studie ist die Frage, wie islamisch geprägte Staaten mit dem Pluralismus in ihrer eigenen Religion umgehen. Denn wie das Christentum oder andere Weltreligionen hat auch der Islam über die Jahrhunderte hinweg verschiedene Ausprägungen erfahren. Wie schlägt sich diese Vielfalt an religiösen Lehrmeinungen in der muslimischen Welt nieder? Wird sie akzeptiert und rechtlich geschützt oder haben wir es eher mit einer Konkurrenzsituation zu tun, in der eine Rechtsschule dominiert und andere Lesarten verdrängt oder gar bekämpft? Wie verhalten sich die staatlichen Institutionen zu dieser Vielfalt? Ergreifen sie Partei für die eine oder andere Glaubensrichtung und wenn ja, wie steht es dann um die Religionsfreiheit? Bedeutet ein solches Privileg automatisch die Benachteiligung anderer Glaubensgemeinschaften und welche Folgen hat das für die Beziehungen der islamischen Staaten untereinander?

Diese oder ähnliche Fragen zum religiösen Pluralismus in Nahost und Nordafrika wurden bislang kaum gestellt, obwohl zahlreiche Akteure seit dem Arabischen Frühling (2011) die Religionsfreiheit auf die Tagesordnung gesetzt haben. Die vorliegende Studie greift diese bislang vernachlässigte Thematik auf und analysiert am Beispiel der Länder Irak, Syrien, Türkei, Ägypten und Tunesien die inter-islamischen Beziehungen, das heißt die Beziehungen zwischen unterschiedlichen islamischen Glaubensgemeinschaften. Die Wahl fiel auf diese Staaten, nicht nur weil sie zurzeit im Zentrum der Aufmerksamkeit der internationalen Politik stehen, sondern auch, weil die dort aufgebrochenen Konflikte mitunter im Namen einer Glaubensrichtung oder religiös begründeten Weltanschauung ausgetragen werden. Deshalb liegt es nahe, genauer nachzuprüfen, worin der Dissens besteht und über welche Instrumente die Politik verfügt, um zu einer friedlichen Lösung zu kommen.

Die Analyse der genannten fünf Länder führt zu der Erkenntnis, dass die inner-islamischen Beziehungen der letzten 200 Jahre von der Interdependenz innen- und außenpolitischer Faktoren geprägt sind. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs am Ende des Ersten Weltkriegs (1919) lebten rund 90 Prozent der Muslime weltweit im Herrschaftsbereich eines der europäischen Imperien. Doch hatten sich die damit verbundenen Perspektiven für einen gesellschaftlichen und politischen Fortschritt nicht erfüllt, weil das religiöse Familien- und Personenstandsrecht unter den Kolonial- bzw. Protektoratsverwaltungen fortbestand. An dieser strukturellen Rückständigkeit änderten die Länder erst etwas aus eigener Kraft, nachdem sie unabhängig geworden waren und erstmals das religiöse Recht der weltlichen Gesetzgebung unterstellen konnten.

Die aus dem Osmanischen Reich hervorgegangenen Staaten konkurrierten zunächst um die Führungsrolle über den sunnitischen Islam, so dass der inner-islamische Pluralismus in eine inter-islamische Rivalität umschlug. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich in den meisten Staaten ein republikanisches Modell durch, bei dem am Islam als Staatsreligion festgehalten wurde. Per Verfassung wurden die Regierungen legitimiert, nach dem Vorbild der französischen Laizität des 19. Jahrhunderts Verwalter der islamischen Institutionen zu sein. Da sie auch auf die Glaubenslehre selbst Einfluss nahmen, differenzierte sich das religiöse Recht weiter aus, so dass neben den klassischen Rechtsschulen nun auch nationale Varianten islamischer Glaubenslehren entstanden. Diese stehen bis heute in Konkurrenz zueinander, die häufig von Intoleranz geprägt ist.

Die faktische Verstaatlichung der islamischen Institutionen, zum Beispiel theologischer Hochschulen und Moscheen, hat im Verlauf der Jahrzehnte immer wieder die Kritik gläubiger Muslime hervorgerufen. Darüber hinaus hat sie einen politischen Widerstand provoziert, der sich religiöser Werte bedient. Gemeint sind hier jene international agierenden islamistischen Netzwerke, die mit ihrer Kritik nicht die Verquickung von Politik und Islam auflösen, sondern lediglich das Dominanzverhältnis zugunsten des religiösen Rechts ändern wollen. Dabei orientieren sich zum Beispiel die ägyptische Muslimbruderschaft oder die tunesische Ennahdah an Lehren des Salafismus und Wahhabismus, die sich seit ihrer Entstehung im 18. und 19. Jahrhundert allen Versuchen einer Modernisierung von Staat und Gesellschaft widersetzen.

Anhänger dieser Bekenntnisse begegnen anderen Glaubensrichtungen im Islam überwiegend mit Intoleranz, indem sie für ihre Dogmen eine grenzüberschreitende Gültigkeit reklamieren und damit regionalen und nationalen Traditionen des Islam die Existenzberechtigung absprechen. Sie verleihen ihrer Lehre eine besondere Authentizität dadurch, dass sie zum Ursprung des Islam im 7. Jahrhundert zurückgehen, das heißt in eine Zeit vor der Entstehung der klassischen islamischen Rechtsschulen. Doch diese Periode ist historisch überhaupt nicht hinreichend erforscht, so dass jedwede Rechtsprechung, die sich auf eine Überlieferung aus jenen Epochen beruft, spekulativ und willkürlich bleibt.

Wie die Länderbeispiele zeigen, kann man diesem Konfliktpotential nicht mit einem Kulturrelativismus begegnen. Ein solcher Ansatz verkennt, dass die meisten islamisch geprägten Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine überkonfessionelle Zivilgesetzgebung eingeführt haben, um ihre Gesellschaften zu modernisieren. Auf diesem Wege wurden aus Untertanen unterschiedlicher Konfessionen und islamischer Rechtstraditionen gleichberechtigte Staatsbürger.

Dieser normative Selbstanspruch spiegelte sich auch in den Außenpolitiken dieser Staaten wider: Mit ganz wenigen Ausnahmen, zu denen zum Beispiel die Golfstaaten und Saudi-Arabien zu rechnen sind, unterstützten die meisten islamischen Länder von Anfang an die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen. Sie unterzeichneten die Anti-Rassismus-Konvention (1969) und die beiden Menschenrechtspakte (1976), die sich unmissverständlich zur Religionsfreiheit bekennen. An diesem Selbstverständnis können und sollten sie heute gemessen werden.

Das Thema der religiösen Toleranz unter Muslimen ist nicht zuletzt für die europäischen Einwanderungspolitiken von Interesse. So müssen die EU-Mitgliedstaaten die Einwanderer an die Standards der Religionsfreiheit heranführen und sie zu deren Einhaltung verpflichten. Dabei wäre es hilfreich, wenn sie im Rahmen von Kulturabkommen insbesondere mit Staaten der islamischen Welt darauf bestehen, dass diese auf eine politische Einflussnahme auf Auslandsorganisationen im Namen der Religion verzichten. 

Dass es hierfür genügend Handlungsspielräume gibt, zeigt die aktuelle Diskussion um den Dachverband der türkischen Muslime DİTİB: Erst jetzt wird die deutsche Öffentlichkeit gewahr, wie eng DİTİB mit dem türkischen Religionsministerium verbunden ist. Hier wäre die deutsche Außenpolitik gefragt, gegenüber der Regierung in Ankara stärker als bisher für die Wahrung des staatlichen Neutralitätsgebots in religiösen Angelegenheiten einzutreten. Dies gilt vor allem dann, wenn es sich um deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft handelt. Dies betrifft aber nicht nur die DİTİB, sondern auch die Religionsbehörden anderer islamischer Länder und nicht zuletzt die wachsende Zahl von islamistischen Gruppierungen, zu denen schließlich auch die Gülen-Bewegung oder die Muslimbrüder gehören.