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Sabine Riedel

Wege in einen funktionierenden Bundesstaat

in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung Tübingen (EZFF, Hg.), Jahrbuch des Föderalismus 2017. Föderalismus, Subsidiarität und Regionen in Europa, Baden-Baden 2017, S. 419-435.

1.

BOSNIEN-HERZEGOVINAS ERFAHRUNGEN MIT DEM FÖDERALISMUS

Dieser Artikel über die derzeitige Lage des Bundestaates Bosnien-Hercegovina versteht sich als Beitrag zu aktuellen Föderalismusdebatten in Europa. Diese findet man auf den politischen Agenden zwar nicht an oberster Stelle. Sie sind es aber Wert, von den verantwortlichen Entscheidungsträgem mehr beachtet zu werden. Denn gut 22 Jahre nach dem Friedensvertrag von Dayton (1995) ist das föderale Staatsmodell auf dem Balkan
in Misskredit geraten, weil es die interethnischen Konflikte nicht lösen konnte. Unverändert verfolgen separatistische Kräfte in den beiden Entitäten Bosnien-Hercegovinas (BiH) die Auflösung des Gesamtstaats. 

In den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) dagegen hat der Bundesstaat als Instrument zur Lösung innerstaatlicher Konflikte um die Verteilung von Entscheidungskompetenzen und Finanzmitteln kaum an Strahlkraft verloren. Im Gegenteil wird in einigen Mitgliedstaaten darüber diskutiert, ob föderale Strukturen geeignet sind, regionalen Forderungen nach staatlicher Unabhängigkeit entgegen zu kommen oder diese sogar einvernehmlich zu überwinden. Dies ist aktuell ein Thema im Vereinigten Königreich in Bezug auf Schottland und Nordirland oder auch in Spanien gegenüber Katalonien. 

Wie die folgende Analyse zeigt, könnten die Erfahrungen aus Südosteuropa dabei äußerst hilfreich sein. So wird herausgearbeitet, dass die prekäre Staatlichkeit Bosnien-Hercegovinas nicht auf den Föderalismus an sich zurückzuführen ist. Vielmehr liegt deren Ursache in einem bestimmten bundestaatlichen Konzept, dass einer ethnischen Teilung Vorschub leistet. Dieses unterminiert nicht nur den Zusammenhalt der Staatsbürger als Wertegemeinschaft, die sich auf eine gemeinsame Verfassung stützt, sondern ermöglicht auch solchen externen Kräften eine direkte Einflussnahme, durch die der schleichende Staatszerfall begünstigt wird.

Ein Blick auf die europäische Staatenwelt zeigt zudem, dass eine überwiegende Zahl immer noch zentralstaatlich ausgerichtet ist und es nur wenige tatsächliche Föderationen gibt, die ihren Regionen vollumfänglich den Status von Gliedstaaten und damit mehr als Autonomierechte zugestehen. Die Skepsis Südosteuropas gegenüber diesem Modell ist also keine Ausnahme.

Zudem zeigen Beispiele wie Deutschland, Österreich oder die Schweiz, dass deren Staatlichkeit erst über einen längeren Zeitraum hinweg und nach vielen historischen Zäsuren entstanden ist. Ihre heutigen Verfassungen verdanken sie bestimmten historischen und internationalen Kontexten. Schließlich sollte dem Westbalkan zugutegehalten werden, dass er seine eigenen historischen Erfahrungen gemacht hat und diese eigentlich in den aktuellen Diskurs einfließen müssten. 

So wurde bereits vor mehr als hundert Jahren in Österreich-Ungarn das Föderationsmodell diskutiert, weil sich die zahlreichen Sprachminderheiten benachteiligt fühlten. Dies betraf vor allem die slawischsprachige Bevölkerung, die nach der Okkupation des osmanischen Vilajets Bosna (1878) rund die Hälfte der Gesamtbevölkerung der Donaumonarchie ausmachte. Noch vor der endgültigen Annexion Bosnien-Hercgovinas (1908) arbeiteten österreichisch-ungarische Politiker und Verwaltungsbeamte an Reformplänen. Sie reichten von der Umgestaltung der Donaumonarchie in einen dreigliedrigen Staat bis hin zur Gründung der „Vereinigten Staaten von Groß-Österreich“ bestehend aus 15 Reichsgebieten (vgl. das Konzept von Aurel Popovici). 

Eine staatliche Neugliederung entlang ethnisch-sprachlichen Grenzen sollte den drohenden Zerfall der Monarchie aufhalten. Dieser Überlegung schlossen sich selbst Anhänger des Austromarximus wie Karl Renner an, die ursprünglich die Nation als ein Herrschaftsinstrument des bürgerlichen Staates verstanden und verworfen hatten. Erst die Bolschewiki sollten diese Idee nach der russischen Oktoberrevolution aufgreifen und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich in die politischen System Osteuropas einführen.

Im Verlaufe des Ersten Weltkriegs (1914-18) verstärkten sich zunächst die separatistischen Kräfte und besiegelten die Auflösung der Donaumonarchie. Bosnien-Hercegovina schloss sich dem neu gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen an, das anfangs dem Staatskonzept eines dreigliedrigen Königreichs folgte, jedoch bald einer jugoslawischen Königsdiktatur unter serbischer Vorherrschaft weichen musste. In dieser Zeit verstärkten sich insbesondere in Bosnien-Hercegovina die interethnischen Spannungen zwischen Serben und Kroaten. 

Diese Konfliktkonstellation wusste das unter dem Nationalsozialismus expandierende Deutsche Reich für eine territoriale Neuordnung Südosteuropas zu nutzen: Nach der Okkupation im Jahre 1941 löste es Jugoslawien auf und unterstellte Bosnien-Hercegovina dem neuen kroatischen Ustasa-Staat (1941-45). Zudem nahm es die bosnischen Muslime zur Vertreibung und Vernichtung von Serben und Juden in seinen Dienst. Dabei fasste erstmals ein Islamismus in Bosnien Fuß, der nicht etwa religiöse Rechtstraditionen aus der vergangenen osmanischen Zeit wiederaufleben ließ. Vielmehr orientierte er sich an der damals modernen salafistischen Doktrin der Muslimbrüder, die noch heute für die Dominanz islamischen Rechts eintreten. […]