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Sabine Riedel

Politische Instrumente zur Lösung von Sezessionskonflikten in Europa

AUSZUG:

PROBLEMSTELLUNG UND EMPFEHLUNGEN

Im Jahr 1985 gründeten die Mitgliedstaaten des Europarats die Versammlung der Regionen Europas (VRE). Damit stießen sie eine Dezentralisierung an, die auf kommunaler und regionaler Ebene die Selbstverwaltung stärkte. 1994 riefen die EU-Staaten dann den Ausschuss der Regionen (AdR) ins Leben. Er sollte diesen Prozess unterstützen und dem Prinzip der Subsidiarität Geltung verschaffen. Nach diesem Grundsatz werden erst dann Kompetenzen auf die nächsthöhere Verwaltungsebene übertragen, wenn kommunale oder regionale Einrichtungen mit der jeweiligen Aufgabe
überfordert sind. 

Zwar ist dieses Projekt im Großen und Ganzen erfolgreich verlaufen, doch kommt heute zunehmend seine Schattenseite zum Vorschein. Einige europäische Regionen geben sich nämlich nicht mehr mit Selbstverwaltungsstrukturen zufrieden, sondern verlangen nach staatlicher Unabhängigkeit. Die Konstrukteure der Dezentralisierung haben offenbar keine Stoppschilder eingeplant, um Regionen vor den Risiken und den ökonomischen Folgen einer Sezession zu warnen.

Im gesamten östlichen EU-Nachbarschaftsraum wiederum haben territoriale Abspaltungen zum Zerfall staatlicher Strukturen beigetragen. So ist ein ganzes Band aus sogenannten Quasistaaten entstanden, denen eine Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft die Anerkennung versagt. Es erstreckt sich von Nordzypern über Kosovo, Bosnien-Hercegovina und Transnistrien bis nach Donezk und Lugansk. In den Sog der Sezessionen könnten bald weitere Regionen geraten, etwa der Süden der Republik Moldau (Gagausien), der Nordwesten der Republik Makedonien und der Südosten der Türkei. Der voranschreitende Staatszerfall im EU-Außenraum hat Hunderttausende von Flüchtlingen und Arbeitssuchenden dazu gedrängt, in Mitgliedstaaten der Europäischen Union abzuwandern. Eine weit größere Herausforderung entsteht aber durch ideelle Rückwirkungen auf andere Regionen Europas – hier wird separatistisches Gedankengut gestärkt, wodurch das Projekt der europäischen Integration unter Druck gerät.

In der vorliegenden Studie wird ein Instrument zur Diskussion gestellt, mit dessen Hilfe der Separatismus überwunden werden könnte, nämlich das Modell des Bundesstaates bzw. der Föderation. Als ein direkter Zugang zu dieser Thematik hat sich der Blick auf konkrete Föderalismuspläne erwiesen, die von internationalen Vermittlern zur Lösung von Sezessionskonflikten ins Spiel gebracht wurden. Zwar sind die Hoffnungen auf eine nachhaltige Konfliktlösung bislang unerfüllt geblieben, doch ergibt die vorliegende Analyse ein durchaus differenziertes Bild. Ein Vergleich zwischen der Republik Zypern, Bosnien-Hercegovina, der Republik Moldau und der Ukraine fördert zunächst Gemeinsamkeiten zutage. 

Obwohl alle vier Länder selbst durch Sezession aus größeren staatlichen Einheiten hervorgegangen sind, wollen sie ihren eigenen Regionen nicht in gleichem Maße das Recht auf Selbstbestimmung zugestehen. Sie begegnen föderalen Modellen mit großer Skepsis, weil sie glauben, dass damit eine Rechtsbasis für spätere Abspaltungen geschaffen würde. Dabei gäbe es Föderationsmodelle, bei denen die Teilstaaten zwar kein Austrittsrecht haben, wohl aber eine eingeschränkte Völkerrechtssubjektivität besitzen. In diesem Fall können sie im Einvernehmen mit der bundesstaatlichen Ebene sogar selbst Verträge mit Drittstaaten bzw. deren Regionen schließen.

Tatsächlich jedoch erweist sich das externe Umfeld als die eigentliche Triebkraft für eine Abspaltung. Denn in allen Fallbeispielen unterstützen Nachbarstaaten die sezessionistischen Bewegungen, indem sie mit historischen oder kulturellen Argumenten die Rolle einer Schutzmacht beanspruchen. Dabei tritt stets dasselbe Konfliktmuster zutage: Zwei externe staatliche Akteure stehen sich als Konkurrenten gegenüber und verteidigen ihre regionalen Einflusssphären auf Kosten der Stabilität des neuen Staates. Im Fall der Republik Zypern heißen die beiden externen Gegenspieler Griechenland und Türkei, bei Bosnien-Hercegovina sind dies Kroatien und Serbien, bei der Republik Moldau polarisieren Russland und Rumänien, und im Fall der Ukraine beschuldigen sich Russland und verschiedene EU-Staaten im Bündnis mit den USA wechselseitig der direkten Einflussnahme. 

Während die EU außenpolitisch derzeit ausgesprochen schwach dasteht und sich sogar in die Sezessionskonflikte hineinziehen ließ, haben einige ihrer Mitgliedstaaten mehr Geschick bei entsprechenden Situationen im Innern bewiesen. An den Beispielen Großbritannien und Spanien wird deutlich, wie wichtig präventive Maßnahmen sind, um drohende Sezessionskonflikte rechtzeitig zu entschärfen. Erforderlich dafür sind funktionierende Schlichtungsmechanismen, wie zum Beispiel eine intakte Parteienkonkurrenz, faire Wahlen und Volksbefragungen sowie Dialog-Angebote. Auch wenn in den schwebenden Sezessionskonflikten mit Schottland und Katalonien nicht alle Instrumente erschöpfend eingesetzt wurden, haben politische und gesellschaftliche Akteure doch den Föderationsgedanken belebt, ohne dass es externer Hilfestellung bedurfte. Ziel ist dabei, ein bestehendes Autonomiesystem mit seinen rechtlichen Asymmetrien durch einen Bundesstaat zu ersetzen.

Diese innergesellschaftlichen Reformdebatten einiger EU-Staaten könnten Thema eines europäischen Diskurses werden. Zum einen zeigt sich hier die Fähigkeit demokratischer Strukturen, innere Krisen aus eigener Kraft zu meistern. Zum anderen bestätigen diese Beispiele, wie effektiv der Subsidiaritätsgedanke der EU tatsächlich ist. Ein europäischer Erfahrungsaustausch über die Wirkungsweise föderaler Staatsmodelle könnte einen Wissenstransfer anstoßen und Reformkräfte ermutigen, ihre eigenen Schlichtungsmechanismen zu stärken. Schließlich dürfte ein solcher Diskurs dazu beitragen, dass die EU-Mitglieder bei der Bewältigung von Sezessionskonflikten in ihrem Nachbarschaftsraum an einem Strang ziehen und die Implementierung geeigneter Föderationsmodelle unterstützen. Damit würde die EU ihr außenpolitisches Profil schärfen und an Gestaltungsspielraum zur Konfliktlösung gewinnen.