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Sabine Riedel, Anna Mühlhausen

Stabilisierung autoritärer Herrschaft am Rande des Arabischen Frühlings

in: Arbeitspapier der Forschungsgruppe Globale Fragen Nr. 1,  Mai 2015, Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale
Politik und Sicherheit,
Berlin, 51 Seiten.

INHALT:

  1. Einleitung
  2. Anna Mühlhausen: Algerien zwischen Transformation und Konsolidierung. Erklärende Modelle zur Stabilisierung autoritärer Herrschaft 
    2.1. Algeriens Stabilität im Arabischen Frühling
    2.2. Erstes Modell: Algerien als Rentierstaat
    2.3. Zweites Modell: Algeriens Geschichtsnarrative 
    2.4. Drittes Modell: Autokratie und Herrschaftskonsolidierung
    2.5. Viertes Modell: Phasen der Rente
    2.6. Quo vadis, Algeria?
  3. Sabine Riedel: Stabilisierung autoritärer Herrschaft durch Religionspolitik. Das Beispiel Algerien 
    3.1. Demokratie und Pluralismus
    3.2. Religionspolitik unter Kolonialherrschaft

    3.3. Religionspolitik in Algeriens Sozialismus
    3.4. Religionspolitik und autoritäre Herrschaft
  4. Fazit: Chancen auf Demokratie 

3.1.

DEMOKRATIE UND RELIGIÖSER PLURALISMUS

Die Religionspolitik Algeriens unter Berücksichtigung seiner kolonialen Vergangenheit ist ein Thema, das zum einen in der gesamten islamisch-
arabischen Staatenwelt eine Schlüsselrolle einnimmt, sobald es um Reform- und Demokratievorhaben geht. Zum anderen aber führt uns dieses besondere Länderbeispiel zurück zu den Umbrüchen in Osteuropa in den Jahren 1989/90. In den europäischen Debatten um den Fall des Eisernen Vorhangs ging es hauptsächlich um die Frage nach den Chancen einer politischen Annäherung und Wiedervereinigung unseres Kontinents. Dabei geriet aus dem Blick, dass der Zerfall der sozialistischen Staatenwelt auch außereuropäische Länder wie z.B. Algerien tangierte und folgenreiche Transformationsprozesse in Gang setzte.

Deshalb kann dieses nordafrikanische Land als eine Art Bindeglied zwischen der Systemtransfomation Osteuropas und des arabischen Frühlings
im Jahre 2011 betrachtet werden. Dies wirft sogleich eine ganze Reihe von Fragen auf: Wie sahen die Demokratisierungschancen Ende der 1980er
Jahre in Algerien aus? Könnte ihr Fehlschlagen möglicherweise erklären, warum das heutige autoritäre Regime so fest im Sattel sitzt und seine Bürger gegenüber neuen Reforminitiativen skeptisch bleiben? Der Weg der algerischen Wirtschaftstransformation, insbesondere der Erhalt alter Monopolstrukturen dürfte dazu beigetragen haben, dass autoritäre Strukturen die erste Wendezeit überlebten und Forderungen nach demokratischer
Partizipation verebbten.

Umgekehrt wurden im Arabischen Frühling auch Unterschiede zum Systemwechsel Osteuropas sichtbar: So spielen im Diskurs um eine Demokratisierung der arabischen bzw. islamisch geprägten Staatenwelt sozioökonomische Rahmenbedingungen überwiegend eine marginale Rolle. Und das, obwohl der französische Soziologe Emmanuel Todd anhand steigender Alphabetisierungs- und sinkender Geburtenraten die revolutionären Umbrüche in diesen Ländern vorhersagte.194 Statt diese sozialen Wirkungszusammenhang zu analysieren, werden heute lediglich gesellschaftliche Akteure in den Blickpunkt gerückt. Doch im Unterschied zur Transformationsforschung der 1990er, die »zivilgesellschaftliche« Akteure stets der demokratischen Opposition zurechnete, erscheinen diese heute nicht mehr uneingeschränkt als positive Reformkräfte. 

Im Gegenteil zeigen Länderbeispiele wie Ägypten und Algerien, dass rivalisierende gesellschaftliche Akteure und ihre politischen Netzwerke oftmals eigennützig um ihre partikularistischen Interessen und die Macht im Staat ringen. Dies sind Armee-Angehörige auf der einen und Islamisten verschiedener politischer Couleur auf der anderen Seite. In europäischen Medien und westlichen Publikationen ist jedoch die Tendenz zu beobachten,
dass islamistischen Akteuren immer noch ein größerer Reformwillen zugetraut wird als Vertretern des Militärs. Dies basiert offenbar auf dem Wissen
um die langjährige Unterstützung von Militärregimen durch europäische Regierungen wie dies in Algerien, Tunesien, Libyen und Ägypten der Fall
war. 

Das Wissen um diese komplexen politischen Wechselwirkungen sollte jedoch nicht in einer erneuten Täuschung enden: Denn islamistische Akteure zielen wie ihre Kontrahenten aus Armeekreisen auf eine Veränderung von Machtverhältnissen, die letztlich auch mit demokratischen Werten kollidieren können. Ignorieren Militärregime Grundwerte wie das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit, stehen Islamisten mit der Religionsfreiheit und dem kulturellem Pluralismus auf Kriegsfuß. Die folgende Analyse der Religionspolitik Algeriens möchte darüber hinaus darlegen, dass diese beiden gesellschaftlichen Konkurrenten, nämlich Generäle und Islamisten, eines gemeinsam haben. Dies ist ihr ganz und gar instrumentelles Verhältnis zur Religion, das sie aus ihrer kolonialen und sozialistischen Periode geerbt haben. […]