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1.

DIE SLAVIA ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND UND/ODER WISSENSCHAFTLICHE PROJEKTIONSFLÄCHE

Keine andere europäische Sprachfamilie hat im Verlauf der letzten beiden Jahrhunderte solch große Wandlungen in ihrem lexikalischen und grammatikalischen Normengefüge erfahren wie die der slavischen Sprachen. Zwar wurden diese Prozesse von Sprachträgern selbst angestoßen. Doch kamen die entscheidenden Impulse für diesen Sprachwandel fast ausnahmslos durch gesellschaftliche und politische Veränderungen. Deshalb bleibt es erklärungsbedürftig, warum die slavistische Forschung in Deutschland diese extralinguistischen Faktoren in einer solch unverzeihlichen Weise vernachlässigt. 

Jüngstes anschauliches Beispiel für dieses Desiderat extralinguistischer Faktoren für den Sprachwandel innerhalb der Slavia ist die EU-Osterweiterung der Europäischen Union in den Jahren 2004 und 2007. Mit diesem Schritt wurden fünf slavische »Staatssprachen«, nämlich das Polnische, Tschechische, Slowakische, Slowenische sowie das Bulgarische zu offiziellen »Amtssprachen der Europäischen Union«. Deren Sprecherzahl zusammen genommen entspricht mit ca. 64 Millionen Muttersprachlern etwa der Einwohnerzahl Frankreichs.

Täglich werden neue EU-Dokumente oder Parlamentsreden in alle Amtssprachen übersetzt, so dass die EU – wenn auch nicht sprachlich – so doch zumindest begrifflich zu einem gemeinsamen Kommunikationsraum zusammenwächst. Dies verändert zwangsläufig auch die neuen slavischen Amts-
sprachen. Hinzu kommt die Aufwertung des Russischen als offizielle EU-Minderheitensprache sowie als eine der fünf führenden Fremdsprachen. So
liegt Russisch derzeit gleichauf mit Spanisch, die beide von jeweils 6 Prozent der EU-Bürger verstanden werden. Warum diese sprachlichen und gesellschaftlichen Realitäten an der deutschen Slavistik vorbeiziehen, ohne als Forschungsfragen nennenswerte Spuren zu hinterlassen, lässt sich nur vermuten. 

Eine Antwort liegt sicherlich in der leidvollen Erfahrung mit der politischen Instrumentalisierung slavistischer Forschungen. Auf die Diskreditierung und Vernichtung der slavischen Kulturen durch die Rassenideologie des Nationalsozialismus folgte ein halbes Jahrhundert lang betroffenes Schweigen. Dabei fördern gerade jüngere Forschungsarbeiten zu Tage, dass es in Deutschland namhafte Slavisten gab, die sich wie Max Vasmer dieser politischen Indienstnahme verweigerten oder zumindest entzogen, und dass es vor allem politische Amtsträger waren, die mit ihrem Halbwissen und Unwissen antislavische Stimmungen erzeugten. 

Doch eine solche historische Aufarbeitung kann eigentlich nur der Auftakt dafür sein, einer nationalistischen Ideologie mit wissenschaftlichen Argumenten die Stirn zu bieten, die auch in den slavischsprachigen Gesellschaften des ehemaligen Osteuropa auf fruchtbaren Boden gefal-
len war. Denn entgegen allgemeinen Darstellungen wurden während der Systemkonfrontation die ethnisch-nationalen Konflikte Osteuropas nicht etwa
»eingefrorenen« (vgl. den populären Begriff ›frozen conflicts‹), sondern in dieser Zeit erst angelegt und ausgebaut. Hierfür stehen stellvertretend die Namen von Stalin und Tito, die ihre Vielvölkerstaaten mit einer Nationalitätenpolitik beherrschten, die innerhalb ihrer Einparteiensysteme politische Repräsentationsrechte mit der Sprachidentität verknüpfte.

Als die Nationalismen Osteuropas zur Wendezeit 1990/91 außer Kontrolle gerieten und der Demokratisierungsprozess in den Zerfall der Sowjetunion
und Jugoslawiens mündete, hielt sich die deutsche Slavistik aus den aufkeimenden Sprach- und Kulturkämpfen vornehm zurück. Sie überlies einigen
Osteuropahistorikern die Meinungsführerschaft, die das Phänomen des Nationalismus in Osteuropa nicht etwa vergleichend analysierten, sondern es
personalisierten: Während z. B. Slobodan Milošević und mit ihm ganz Serbien zu Hauptverantwortlichen der Jugoslawienkriege deklariert wurden, blieben andere wie Alija Izetbegović, Franjo Tudjman oder Hashim Thaçi bis heute weitgehend verschont. Ihre nationalistischen Ideologien werden umdatiert und als Antwort auf eine serbische Unterdrückung reinterpretiert. 

Spuren des kroatischen, bosnischen oder albanischen Nationalismus, die bis in die Zeit der deutschen Besatzung Jugoslawiens während des zweiten Weltkrieges zurückreichen, werden verwischt oder bleiben ungenannt. Auch wenn sich die deutsche Slavistik mehrheitlich nicht in diese Politisierung der Kulturgeschichte einspannen ließ, so hat sie dem auch nichts entgegengehalten, sondern zugeschaut, wie die jugoslawischen Eliten ihre gemeinsame serbokroatische Standardsprache in ihre dialektalen Einzelbestandteile zerlegten und schließlich auflösten. Einen vergleichbaren Kulturkampf im deutschen Sprachraum hätten Germanisten ohne zu zögern als das beschrieben, was es wäre: als einen beispiellosen Zerfall einer hoch entwickelten Sprachkultur. […]