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ISSN 2698-6140   ♦  Volume 7   2023/3  ♦  32 pages   pdf-Format   ♦   2023 Aug 9    

Sabine Riedel

KRIEGE OHNE KRIEGSERKLÄRUNGEN

Der Ukraine-Krieg im Licht von Völkerrecht, „humanitärer“ Intervention, Massenvernichtungswaffen, Outsourcing von Außenpolitik, Kriegswirtschaft und Wirtschaftssanktionen 

Kriege ohne Kriegserklaerungen 1200 x 630

INHALT:

  • UN-Gewaltverbot und Sanktionsinstrumente
  • „Humanitäre“ Interventionen sind gescheitert
  • IAEA/WHO-Versagen: Massenvernichtungswaffen
  • EU-Outsourcing nationaler Außenpolitiken
  • Mit EU-Sanktionen in die Kriegswirtschaft
  • Zusammenfassende Thesen
  • Literaturverzeichnis

Die 32 Seiten enthalten: Analyse, Zusammenfassung, 13 Abbildungen und Quellentexte, ca. 223  Quellen (verlinkt) 

EINLEITUNG

Der Ukraine-Krieg zerreibt derzeit nicht nur Ukrainer und Russen und damit zwei Brudervölker, die seit Jahrhunderten miteinander aufs Engste verbunden sind. Er spaltet auch den europäischen Kontinent, der nach dem Kalten Krieg wieder zusammengewachsen ist. Wie konnten die Hoffnungen auf mehr Prosperität schon nach wenigen Jahrzehnten so enttäuscht werden und Feindbilder entstehen, die Europa und die gesamte Welt an den Abgrund eines Atomkriegs führen? Warum hat die europäische Friedensordnung versagt, die durch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), den Europarat und die Europäische Union repräsentiert werden? Welche Rolle spielen die Vereinten Nationen und das Gewaltverbot der UN-Charta? Warum sind Kriege ohne Kriegserklärungen möglich? Beobachten wir heute einen Zerfallsprozess der internationalen Ordnung?

Diese Fragen werden von Medien und Forschungsinstituten aufgegriffen, doch mit einer Universal-Formel beantwortet: Die Russische Föderation – oder noch kurz: Putin – sei für den Krieg allein verantwortlich. Damit geben sich nur Menschen zufrieden, die sich bereits in einer Kriegssituation befinden. Offene oder demokratische Gesellschaften suchen nach Konfliktlösungen und Wegen zu Frieden und Wohlstand. Dieser Beitrag möchte sich ebenfalls fokussieren, doch die gestellte Frage unter unterschiedlichen Aspekten diskutieren: Warum können seit Jahrzehnten Kriege geführt werden, obwohl die UN-Charta Kriegserklärungen verbietet? Wo sind die Grauzonen, um europäische und internationale Verträge zu umgehen? Läuft alles zwangsläufig auf einen nuklearen Showdown hinaus, dessen Schauplatz diesmal nicht in Hiroshima und Nagasaki, sondern in Osteuropa liegt?

Alle Prognosen scheitern daran, dass sie menschliche Entscheidungen nicht wirklich vorhersagen können. Positiv betrachtet heißt das: Verantwortliche Politiker sind in der Lage, umzusteuern und Fehleinschätzungen zu korrigieren. Solche politischen Gestaltungsspielräume arbeitet dieser Beitrag in der Hoffnung heraus, dass die Menschheit insgesamt klüger ist als die Vertreter partikularer Machtinteressen: Das Gewaltverbot in der UN-Charta wird verteidigt, u.a. gegen das erfolglose Konzept der „humanitären“ Intervention. Staaten mit einer Verfügungsgewalt über Massenvernichtungswaffen werden zur Verantwortung gezogen. Auch das Outsourcing nationaler EU-Außenpolitiken, d.h. deren Übertragung auf nicht legitimierte internationale Organisationen, gerät zunehmend ins Zwielicht, Wirtschaftssanktionen werden als Wirtschaftskriege wahrgenommen und geächtet.

US-Präsident Harry S. Truman zum Abwurf der Atombombe auf Hiroschima:

„Vor sechzehn Stunden warf ein amerikanisches Flug-zeug eine Bombe auf Hiroshima ab, […]. Mit dieser Bombe haben wir die Schlagkraft unserer Streitkräfte um eine neue und revolutionäre Zerstörungskraft verstärkt. In ihrer jetzigen Form sind diese Bomben bereits in Produktion, und noch effektivere Modelle sind in der Entwicklung. […].“

Quelle: Truman Statement on Hiroshima, The White House, Washington, D.C., 6.8.1945, Statement by the President of the United States, Atomic Heritage Foundation, https://ahf.nuclearmuseum.org/ahf/key-documents/truman-statement-hiroshima/

Den theoretischen Rahmen dieser Analyse bildet der völkerrechtliche Grundsatz des Verbots der Androhung und Anwendung von Gewalt. Darauf einigten sich nur wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Gründungsstaaten der Vereinten Nationen in der UN-Charta (Art. 2.4 UN-Charta, 26.6.1945, vgl. in Abbildung 1). Auch wenn dieser Grundsatz noch vor dessen Inkrafttreten (24.10.1945) durch den Abwurf von Atombomben über Hiroschima und Nagasaki missachtetet wurde, so gehört er dennoch bis heute zum Kernbestand des Völkerrechts. Daran haben selbst die fünf Veto-Mächte des UN-Sicherheits­rats nichts ändern können. Die vielen Militäroperationen der USA seit 1945 (sueddeutsche.de, 17.5.2010) führten auch nicht zu einer neuen völkerrechtlichen Praxis, d.h. einem neuenen Völkergewohnheitsrecht (icrc.org/de/gewohnheits­recht). 

Das Gewaltverbot sowie die Verpflichtung aller UN-Mitglieder zur Achtung ihrer Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, politischen Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit machen Kriegserklärungen seit 1945 praktisch unmöglich. Denn eine Verletzung dieser Grundsätze kann die UN-Generalversammlung sanktionieren, sei es durch eine zeitweilige Suspendierung der Mitgliedschaft oder einem Ausschluss des betreffenden Staates (vgl. Kapitel II, Artikel 5 und 6 der UN-Charta, 26.6.1945, siehe Abbildung 1). In der Fachliteratur wird hervorgehoben, dass es bis 2002 trotz verschiedener Streitfälle (1974: Südafrika) keinen Ausschluss gegeben habe (nations encyclopedia.com, 2023).

Nicht erwähnt wird, dass die UN-Generalver­sammlung am 25.10.1971 Taiwan ausschloss (UN-Resolution 2758, 25.10.1971), welches bis dahin zu den fünf Vetomächten des UN-Sicher­heitsrats gehörte und die UN-Charta in keinster Weise verletzt hatte. […, S. 2]