Suche
Close this search box.
favicon 19.4.223
FPK Logo 900 x 150

Volume 6, 2022/1, Jan 23, 33 pages  ♦  pdf-Format

Sabine Riedel

DIE KURDEN IM NAHEN OSTEN

Friedenspolitische Alternativen zum kurdischen Separatismus in der Türkei, Iran, Irak und Syrien

FPK Logo 1200 x 300 2022 1

INHALT:

  • Historische, begriffliche und normative Kontexte der Kurdenfrage(n)
  • Rechte der Kurden in Armenien, Aserbaidschan, Türkei, Iran, Irak und Syrien
  • Lösungsansätze verknüpfen horizontale und vertikale Gewaltenteilung

Gesamtverzeichnis FPK/CPI

Dieser Artikel ist kostenpflichtig

Artikel im Shop ansehen 

Die 33 Seiten enthalten:
Analyse, Zusammenfassung,
14 Abbildungen und Quellentexte,
208 Quellen (verlinkt)

EINLEITUNG

Eine unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen (VN) stellte im Jahre 2021 fest, dass sich in Syrien alle Konfliktparteien Kriegsverbrechen schuldig gemacht haben. Zu den betreffenden Akteuren gehören nicht nur Regierungstruppen aus dem In- und Ausland, sondern auch bewaffnete Gruppen wie der IS oder kurdische Volksverteidigungseinheiten (YPG). Die Syrienkrise ist daher eng mit den Kurden im Nahen Osten verbunden. 

Deren Widerstandsorganisationen haben sich die Gründung eines eigenen Staates auf die Fahnen geschrieben, eine Maximalforderung, die sie auf die Agenda der internationalen Friedensverhandlungen setzen wollen. Doch wie Parteiprogramme zeigen, macht der kurdische Separatismus nicht an den Grenzen Syriens Halt, sondern er fällt ebenso in der benachbarten Türkei als auch in Irak und Iran auf fruchtbaren Boden. Eine Veränderung der Staatsgrenzen Syriens würde also auch dessen Nachbarstaaten existenziell gefährden.

Wie die folgende Analyse des historischen und begrifflichen Rahmens zeigt, widerspricht dieses Ziel des kurdischen Nationalismus den Normen des Völkerrechts. Weil dessen Vertreter ihre nationale Agenda über das Friedensgebot der UN stellen, bleiben sie von den UN-Friedensverhandlungen ausgeschlossen. Zudem verstoßen kurdische Regionalpolitiker in ihren selbstverwalteten Provinzen in Nordsyrien oder im Nordirak gegen UN-Mindeststandards zu politischen Rechten, ohne dass diese Verstöße ausreichend dokumentiert und rechtlich geahndet werden. 

Sie verletzen somit Grundprinzipien der Gewaltenteilung, sowohl auf horizontaler wie auch auf vertikaler Ebene der staatlichen Verwaltung. Deshalb richtet diese Analyse ihren Fokus auf jene friedenspolitischen Instrumente des Völkerrechts, die von Internationalen Organisation wie den UN, dem Europarat oder auch der OSZE bereits geschaffen wurden, um Sprachminderheiten wie die Kurden wirksam vor Diskriminierung zu schützen und deren regionale Selbstverwaltungsstrukturen zu stärken.

Um das Vertrauen in diese internationalen Abkommen zu erhalten, sollten sich Regierungen genauso wenig zur Unterdrückung oppositioneller Bewegungen in Drittstaaten einspannen lassen wie für die Ziele separatistischer Organisationen. Zurückhaltung ist geboten, weil die UN-Charta eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten verbietet. 

Darüber hinaus besteht die Gefahr, in die Eskalationsspirale gewaltsamer Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. So ist Deutschland seit dem Herbst 2015 besonders gefährdet, weil es etwa ein Drittel aller Asylsuchenden innerhalb der EU aufgenommen hat. Rund die Hälfte davon kam aus Staaten mit einer kurdischen Minderheit. Freiwilligen Angaben zufolge ist jeder dritte syrische Asylsuchende kurdischer Abstammung, unter den Irakern sind es sogar zwei Drittel. Sie treffen auf eine Vielzahl von Einwanderern türkischer Abstammung, wodurch ein unbeherrschbares Konfliktpotential entsteht. …

UN-Bericht vom 21.1.2021 über die Menschenrechtslage in Syrien

„In den vergangenen zehn Jahren haben die Konfliktparteien [in Syrien] schwerste Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht sowie Verstöße und Missbräuche gegen die internationalen Menschenrechtsnormen begangen. […] Die regierungsfreundlichen Kräfte, aber auch andere Kriegsparteien, griffen auf Methoden der Kriegsführung zurück und setzten Waffen ein, die die Risiken für ihre Kämpfer, jedoch nicht den Schaden für die Zivilbevölkerung minimierten.“

Quelle:
Schlussfolgerungen in: UN-Report, 21.1.2021: 19

Führende Politiker der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung geben offen zu, dass ihre Forderung nach einem eigenen kurdischen Staat den Verfassungen ihrer jeweiligen Staaten widerspricht und wenn überhaupt, dann nur langfristig durchsetzbar sei. Zu ergänzen wäre aus wissenschaftlicher Sicht, dass sich das Selbstbestimmungsrecht nicht auf Völker im Sinne eines ethnisch determinierten Nationalitätenprinzip bezieht, sondern auf Völker bzw. Nationen im politischen Sinne. 

Um dennoch ihre Sprachgemeinschaft und vermeintliche Nation von diesem Konzept zu überzeugen und andere ethnische Minderheiten als Bündnispartner zu gewinnen, haben kurdische Parteien eine Strategie entwickelt, die je nach politisch-ideologischer Ausrichtung unterschiedliche verstanden wird. Die Interpretation changiert zwischen „demokratischer Autonomie“ und „demokratischem Konföderalismus“. 

Diese Schlagwörter lenken von Demokratiedefiziten im Nord-Irak und in Nordsyrien ab, wo auf horizontaler Ebene entweder Stammesstrukturen oder sozialistische Gesellschaftsmodelle die Einführung einer Gewaltenteilung verhindern. In den Fokus rückt stattdessen die vertikale Machtteilung zwischen Kommunen, Regionen und Zentralstaat, die nach dem Willen kurdischer Akteure an ethnische Identitäten zu koppeln sei. So erzeugen sie das Bild einer kulturell geprägten Gemeinschaft, die politische und ökonomische Ressourcen „gerecht“ unter den Sprach- und Religionsgemeinschaften aufzuteilen vorgibt.

Der Blick auf die vertikalen Verwaltungsstrukturen der betreffenden Staaten ergibt auch hier ein unterschiedliches Bild: Die drei Mitgliedstaaten des Europarats, die Türkei, Armenien und Aserbaidschan, sind mit Unterzeichnung der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985) die Verpflichtung eingegangen, die politische, administrative und finanzielle Unabhängigkeit der lokalen Verwaltungsebene sicherzustellen. 

Um diesen Dezentralisierungsprozess zu unterstützen, wurde ein Kongress der Gemeinden und Regionen ins Leben gerufen, in dem mehr als 150.000 regionale und lokale Gebietskörperschaften aller 47 Mitgliedstaaten vertreten sind (CoE Congress). Er organisiert nicht nur einen Erfahrungsaustausch, sondern auch ein kontinuierliches Monitoring zum Stand der Umsetzung der Charta. In Iran, Irak und Syrien gibt es keine entsprechenden Strukturen, so dass kurdische Organisationen mit Forderungen nach mehr Mitsprache auf kommunaler und regionaler Ebene einen wichtigen Beitrag zum politischen Diskurs leisten. Dabei fehlt allerdings eine Reflexion über die Praxis der drei genannten Europarats-Mitglieder mit bereits bestehenden Selbstverwaltungsstrukturen.  [S. 26]