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THEMA  2021 / 1

KONTROVERSEN UM DEN BREXIT

SABINE RIEDEL

Vgl. PUBLIKATION: Kontroversen um den Brexit. Diskursanalyse, Integrationstheorien und Ordoliberalismus bieten Erkenntnis und Orientierung, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur 2021/1, 13 S.

Berlin, Deutschland

THEORETISCHE ANSÄTZE

▪ DAS BIETET DIE WISSENSCHAFT ZUM THEMA BREXIT

„Drei große Ausschließungssysteme treffen den Diskurs: Das verbotene Wort, die Ausgrenzung des Wahnsinns, der Wille zur Wahrheit.“ 
(Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses, 2.12.1970; dt. 2019:16)

„Die Berichterstattung über die (Post-)Brexit-Verhandlungen 2019–2020 ist ein Lehrbeispiel dafür, wie Medien immer stärker gesellschaftliche Diskurse steuern und Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse nehmen, die eigentlich in die Hand des Souveräns gehören, den Staatsbürgern. Die Diskursanalyse Foucaults macht mediale Techniken bewusst, um das Nichtgesagte zu erkennen, Doktrinen zu hinterfragen und sich ein eigenes Urteil zu bilden. So wird deutlich, dass der Austritt des Vereinigten Königreichs (VK) für die Europäischen Union (EU) mehr bedeutet als der Verlust eines Mitglieds. Es geht um die Deutungshoheit über „Europa“ und darüber, welche Richtung die Europäische Integration einschlagen soll. Die Mehrdeutigkeit der Europabewegung hat in diesem Diskurs keinen Platz mehr und das Narrativ eines naturwüchsigen“ Spill-over“ (Neofunktionalismus) von Machtbefugnissen auf Brüssel wird so zur einzigen Wahrheit. Die funktionalistische Theorie, die von einer Kooperation souveräner Staaten ausgeht, soll für die Europapolitik nicht mehr gelten. Wohl deshalb wurde den nationalen Parlamenten vorenthalten, dass Brüssel neben dem Handelsvertrag, noch weitere Abkommen mit dem VK abgeschlossen hat, u.a. zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. Schließlich kann der Ansatz des Ordoliberalismus den Dissens der Verhandlungen erklären: Die EU-Verhandlungsführer stellen die Souveränität des Binnenmarktes über die von Staaten. …“ 

ZENTRALE AUSSAGEN

▪ DIE THEORIEN FÜHREN ZU UNTERSCHIEDLICHEN ERKENNTNISSEN

DIE ANWENDUNG DER DISKURSANALYSE FOUCAULTS AUF DIE BREXIT-VERHANDLUNGEN (2016-20):

♦   Nach Michel Foucaults Diskursanalyse (1970) wurden nachweislich die folgenden Techniken zur Ausgrenzung von Diskursinhalten angewendet: Die Ausgrenzung des Wahnsinns, der Wille zur Wahrheit und der Kommentar.

♦   Mit der Ernennung von Boris Johnson zum britischen Premier hat der Diskurs über die Post-Brexit-Verhandlungen eine neue Richtung eingeschlagen. Er wurde anfangs als „mad (verrückt)“, „Irrer“ oder „Autist„, später als „Märchenonkel„, „Großmaul“ oder „Schwindler“ bezeichnet. Dies hat seine Rolle als ein ernstzunehmender Vertragspartner diskreditiert.

♦   Mit Hilfe des Kommentars konnte der revidierte Brexit-Vertrag (12.11.2019) umgedeutet werden. So kamen EU Forderungen aus dem ersten Entwurf  (14.11.2018) wieder auf die Agenda, insbesondere der Backstop für Nordirland und EU-Standards. Journalisten hielten die Kommentare – nicht mehr den Vertragstext – für authentisch.

♦   Diese Techniken verhinderten eine Veröffentlichung der britischen Vorschläge für Nachfolgeabkommen über den Handelsvertrag hinaus. Die deutsche Öffentlichkeit wurde getäuscht und konnte nicht mehr einschätzen, welche Chancen die Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich boten.

♦   Hinter den Kulissen wurden weitere Verträge geschlossen und den Unionsbürgern vorenthalten, u.a. ein Abkommen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie. Da es es nicht nur für die deutsche Energiewende relevant ist, sondern Einfluss auf alle EU-Mitglieder nimmt, hat die Europäische Kommission ihre Kompetenzen überschritten.

♦   Während die Europäische Kommission die Verhandlungsführung für alle Nachfolgeabkommen mit dem Vereinigten Königreich an sich gezogen hat, waren Frankreich, Spanien, Irland und Zypern in Fachausschüssen vertreten, wo sie ihre nationalstaatlichen Interessen einbringen konnten (Atomenergie, Gibraltar, Nordirland).

DENEOFUNKTIONALISMUS IST DAS DOMINIERENDE THEORETISCHE MODELL FÜR DIE EUROPÄISCHE UNION:

♦   Der neofunktionalistische Ansatz von Ernst B. Haas (1958) besagt, dass die staatliche Zusammenarbeit automatisch zu einem Spill-over führt, d.h. zu einem „Überschwappen“ bzw. einer Übertragung von nationalen Souveränitätsrechten auf supranationale Institutionen. Dieser Effekt wird als entscheidender Motor der Europäischen Integration betrachtet.

♦   Anhänger dieses Ansatzes behaupten, dass er eine Weiterentwicklung des Funktionalismus sei, was seine dominante Stellung in der Europaforschung begründet. Erst seit dem Brexit-Referendum (23.6.2016) erscheint ein Rückschritt der Integrationsprozesse möglich. Der Neofunktionalismus entwickelt sich zum „Postfunktionalismus„.

♦   Mit dem endgültigen Brexit zum 1.1.2021 ist aber  der Spill-over-Effekt widerlegt worden. Einen Automatismus hin zu einer Souveränitätsübertragung auf die supranationale Ebene gibt es nicht. Damit verliert die neofunktionalistische Theorie ihre Deutungshoheit und muss sich wieder an anderen Ansätzen messen lassen.

♦   Dies ist die Chance für die Europaforschung für eine Erneuerung im Sinne einer Rückkehr zu mehr Pluralismus und Wettbewerb der Theorieangebote. Der neofunktionalistische Ansatz verliert seinen normativ-ideologischen Charakter, wodurch die Europaforschung in der internationalen Scientific Community mehr Beachtung finden könnte.

DER FUNKTIONALISMUS GEHT VON DER SOUVERÄNITÄT DER STAATEN AUS UND BASIERT AUF DEM VÖLKERRECHT:

♦   Der Funktionalismus von David Mitrany (1943) setzt für zwischenstaatliche Kooperationen keine supranationalen Strukturen voraus. Er prognostiziert auch keinen automatischen Spill-over-Effekt in Form einer Übertragung von Souveränitätsrechten auf gemeinsame Institutionen wie die in der Europäischen Union.

♦   Sein Gründer David Mitrany sah in dem neofunktionalistischen Ansatz (Haas 1958 u.a.) keine Weiterentwicklung, sondern einen konkurrierenden theoretischen Ansatz, mit dem er sich zeit seines Lebens kritisch auseinandersetze.

♦   David Mitranys Argument war, dass die Forderung nach einem Souveränitätsverzicht zugunsten supranationaler Organisationen eine große Hürde darstellt und deshalb eine zwischenstaatliche Zusammenarbeit verhindern kann.

♦   Diese Feststellung gilt nicht nur im historischen Kontext nach dem zweiten Weltkrieg, sondern ist für Europa aktueller denn je. So ist es die Stärke des neofunktionalistischen Ansatzes, dass er eine Zusammenarbeit auch zwischen (ehemals) verfeindeten Staaten für möglich und sogar im Interesse des Friedens für notwendig hält.

DER ORDOLIBERALISMUS ANALYSIERT DIE INTERDEPENDENZ DER ORDNUNGEN (z.B. POLITIK UND WIRTSCHAFT):

♦   Dieser Ansatz geht auf den deutschen Ökonomen Walter Eucken zurück (1959), den Begründer des Modells der sozialen Marktwirtschaft. Er geht von der These aus, dass eine permanente Interdependenz, also wechselseitige Abhängigkeit zwischen Ordnungssystemen gibt, vor allem zwischen Wirtschaft und Politik.

♦   Eucken formulierte zwei Prinzipien für eine unabhängige staatliche Wirtschaftspolitik: Sie soll die Entstehung von wirtschaftlichen Machtgruppen, von privatwirtschaftlichen oder staatlichen Monopolen verhindern und einen gesetzlich verankerten Ordnungsrahmen schaffen statt Wirtschaftsprozesse selbst zu lenken.

♦   Dieser Ansatz kann einen wichtigen Dissens in den Post-Brexit-Verhandlungen erklären: Brüssel verteidigte das Primat des EU-Binnenmarkts gegenüber der staatlichen Souveränität des Vereinigten Königreichs: „Unser Binnenmarkt ist unser Heimatmarkt“ (Michel Barnier, 29.5.2020).

♦   Eine Folge des Primats des Binnenmarkts ist nicht mehr Wettbewerb, sondern die Stärkung von Monopolanbietern. Beispiel hierfür ist der Abschluss eines Vertrags zwischen Brüssel und London über die friedliche Nutzung der Kernenergie, der im Stillen zugunsten großer Energieunternehmen abgeschlossen wurde.

EIGENE PUBLIKATIONEN

▪ SABINE RIEDEL IM WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS ZUM THEMA

Sabine Riedel, Kontroversen um den Brexit. Diskursanalyse, Integrationstheorien und Ordoliberalismus bieten Erkenntnis und Orientierung, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 5, 2021/1, 13 Seiten.

Sabine Riedel, Brexit Negotiations 2.0 at their Wits End? The New Partnership Fails not least because of the National Interests of some EU Members, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 4, 2020/6, 12 Seiten.

Sabine Riedel, Brexit-Verhandlungen 2.0 vorzeitig am Ende? Die neue Partnerschaft scheitert nicht zuletzt an den nationalen Interessen einiger EU-Mitglieder, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur , Vol. 4, 2020/7, 12 Seiten.

Sabine Riedel, Deficiencies and Omissions in the Brexit Agreement. The European Union’s Shared Responsibility at the Failure of the UK Withdrawal Negotiations, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 3, 2019/7, 8 Seiten.

Sabine Riedel, Konzeptionelle Defizite des Brexit-Vertrags. Die Mitverantwortung der Europäischen Union am Scheitern der Verhandlungen, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 3, 2019/6, 8 Seiten.

Sabine Riedel, Northern Ireland – the Pawn in Brexit Agreement. A Part of the United Kingdom Becomes a Ball of (Supra-) National Interests, in Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 3, 2019/5, 8 Seiten.

Sabine Riedel, Nordirland – Der Faustpfand im Brexit-Vertrag. Ein Landesteil des Vereinigten Königreichs wird zum Spielball (supra-)nationaler Interessen, in Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 3, 2019/2, 8 Seiten.

WICHTIGE QUELLENTEXTE

▪ DAS IST FÜR WISSENSCHAFTLER BESONDERS RELEVANT:

Barnier, 29.5.2020, EU-Chefunterhändler Michel Barnier: „Briten verstehen nicht, dass der Brexit mit Folgen verbunden ist“, Michel Barnier im Gespräch mit Christoph Heinemann, in: Deutschlandfunk.

Brexit-Vertrag 2018, Draft Agreement on the withdrawal of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland from the European Union and the European Atomic Energy Community, as agreed at negotiators‘ level on 14 November 2018, TF50 (2018) 55 – Commission to EU27.

Brexit-Vertrag 2019-I, Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, Amtsblatt der Europäischen Union, Mitteilungen und Bekanntmachungen, 62. Jg., 12.11.2019, 2019/C 384 I/ 01-177.

Brexit-Vertrag 2019-II, Politische Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich, Amtsblatt der Europäischen Union, Mitteilungen und Bekanntmachungen, 62. Jg., 12.11.2019, 2019/C 384 I/178-193.

Directives 25.2.2020, Council of the European Union, Directives for the Negotiation of a New Partnership with the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland.

Foucault 1991, Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M. 1991, 15. Auflage 2019, S. 9-49.

Eucken 1959, Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1959, Ausgabe 1962.

gov.uk, 19.5.2020, Schreiben des britischen Chef-Unterhändlers in den Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU, David Frost, an den Leiter der UK Task Force der EU-Kommission, Michel Barnier, [offizielle] Übersetzung.

gov.uk, 27.5.2020, Cabinet Office, Policy paper. The UK’s approach to the Northern Ireland Protocol, Updated 27 May 2020.

gov.uk, 24.12.2020, Government UK, International treaty. Agreements reached between the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and the European Union, 24.12.2020.

Haas 1958, Ernest B. Haas, The Uniting of Europe. Political, Social, and Economic Forces 1950-1957, Notre Dame, Indiana, USA 1958.

Mitrany 1943, David Mitrany, A World Peace System, 1943, Re-printed, Quadrangle Books, Chicago 1966, S. 93-113.