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THEMA  2021 / 4

KATALONIENS MEDIALE NARRATIVE

SABINE RIEDEL

Vgl. PUBLIKATION:Der katalanische Separatismus: Kompromisslos aber „pro-europäisch“, in: Forschungshorizonte Politik & Kultur 2021/8, 17 S.

Berlin, Deutschland

KONFLIKT-DIMENSIONEN

▪ EINE WISSENSCHAFTLICHE REPLIK AUF MEDIALE NARRATIVE

Alghero [italienische Küstenstadt auf Sardinien, vgl. Karte] ist zutiefst mit der katalanischen Kultur und Sprache [Spaniens] verbunden. Für mich ist es sehr wichtig, heute hier zu sein – und das in Freiheit. Ich bin es gewohnt, von Spanien verfolgt zu werden. Am Ende ist es aber immer dasselbe: Ich bin frei und kämpfe weiter.“ Quelle:
(Carles) Puigdemont: Frei und glücklich in „Klein Barcelona“, euronews.com, 25.9.2021.

Der ehemalige katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont macht derzeit medial auf sich aufmerksam. Von seinem Brüsssler Exil aus besuchte er am 24.9.2021 Sardinien, um dort an einem katalanischen Kulturfestival teilzunehmen. Dies gab ihm die Gelegenheit, mit seinem Amtsnachfolger Pere Aragonès und anderen Mitstreitern aus der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung zusammenzutreffen. Da das Europaparlament am 9.3.2021 seine Immunität als Abgeordneter aufgehoben hatte, konnten die spanischen Behörden von Italien eine Vollstreckung des europäischen Haftbefehls gegen ihn verlangen. 

Er wurde tatsächlich für wenige Stunden verhaftet, konnte sich deshalb wieder mit seinen Anhängern zeigen und unbehelligt nach Brüssel zurückkehren. Das italienische Gericht verschob derweil seine Entscheidung und verwies auf den Europäischen Gerichtshof (EUGH), der zurzeit Puigdemonts Einspruch gegen die Aufhebung seiner Immunität prüft. In dieser Faktenlage spiegelt sich die rechtliche Dimension des Katalonien-Konflikts wider: Zwischen der nationalen und  supranationalen EU-Ebene wachsen die Spannungen. 

Angesichts der Popularität Puigdemonts ist der Anlass seines Besuches in den Hintergrund getreten. Das Festival galt nicht nur der katalanischen, sondern auch der sardischen Kultur. Es sollte das enge Bündnis zwischen separatistischen Regionalparteien innerhalb der EU demonstrieren. Deren politische Programme verweisen auf die kulturelle Dimension des Katalonien-Konflikts: Eine Neuaufteilung der EU-Mitgliedstaaten entlang von Sprachgrenzen. Deshalb kämpfen sie zunächst für eine Anerkennung als eine eigene (Sprach-)Nation innerhalb ihres jeweiligen Zentralstaats. 

Damit deutet sich die politische Dimension an: Die separatistischen Parteien berufen sich als nächstes auf das „Selbstbestimmungrecht der Völker“, d.h. auf das vermeintliche Recht, einen eigenen Staat zu gründen. Der mediale Diskurs lässt nicht nur eine Aufklärung hierüber vermissen. Ganz ausgespart bleibt die ökonomische Dimension des Katalonien-Konflikts. Hier droht der EU und insbesondere den Mitgliedern der Eurozone Ungemach: Die Schulden Kataloniens wachsen stetig und die Suche nach neuen Kreditgebern erweist sich als das eigentliche Problem. …

Quellen:

Eigene Zusammenstellung, Montage von zwei Karten:
1. Innerspanische Grenzen der autonomen Gemeinschaften, vgl. NUTS 2 Regionen der EU, 2007, wikipedia, 29.4.2010,
2. Verbreitung des Katalanischen um 1400, rekonstruierte Karten von:
Alexandre Vigo, Chronological map showing linguistic evolution in southwest Europe from A.D. 1000-2000, in: History of Catalan, wikipedia, 14.6.2009.

vgl. unter: Sabine Riedel, Der katalanische Separatismus: Kompromisslos aber „pro-europäisch“, Nachdruck in: Forschungshorizonte Politik & Kultur 8/2021, 17 Seiten.

NARRATIVE UNTER DER LUPE

▪ EUROPÄISCHE DIMENSIONEN DES KATALONIEN-KONFLIKTS

DIE KULTURELLE DIMENSION: KATALONIEN IST SEIT JEHER MEHRSPRACHIG

♦  Das Katalanische ist entgegen solchen Sprachenkarten wie oben zu sehen im wechselseitigen Kontakt mit anderen Kulturen entstanden. Es befand sich stets in einem multilingualen Milieu, das nach der Franco-Diktatur (1975) durch eine demokratische Sprachenpolitik wiedererweckt und gestärkt wurde. 

♦  Die historische Mehrsprachigkeit Kataloniens verstärkte sich im 20. Jahrhundert durch die innerspanische Migration und ab dem Jahre 2000 durch die Einwanderung aus Lateinamerika. Eine Sprachenpolitik, die das Katalanische zur alleinigen Amtssprache machen will, wirkt diskriminierend.  

♦  Die katalanische Sprachenpolitik stellt nicht nur die (kastilianisch-)spanische Amtssprache in Frage, sondern auch die Eigenständigkeit benachbarter romanischer Sprachvarianten. Sie bezeichnet die Dialekte Valencias und der Balearen als Varianten des Katalanischen.

♦  Die Mehrsprachigkeit wird zunehmend negativ bewertet und als ideologisches Instrument der Zentralregierung betrachtet, um die vermeintliche Dominanz des Spanischen sicherzustellen. Mit diesem Argument wird die Bevölkerung vom kulturellen Erbe ihrer Vorfahren und von einer Weltsprache abgeschnitten.

DIE POLITISCHE DIMENSION: KATALONIEN HAT KEIN „RECHT AUF EIGENSTAATLICHKEIT“

♦  Das „Recht auf Selbstbestimmung“ wurde vor ca. 100 Jahren in das Völkerrecht aufgenommen und unterschützt heute die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (VN) in ihrer eigenständigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Es bezieht sich nicht auf Teilgebiete oder Regionen.

♦  Auf keinen Fall können sich Regionen auf dieses Selbstbestimmungsrecht berufen, die zum Schutz ihrer regionalen Kulturen Autonomierechte genießen. Dies gilt insbesondere für Katalonien und das Baskenland, deren Sonderrechte weit über dem Niveau anderer spanischer Gemeinschaften liegen.

♦  Im Gegenteil ist festzuhalten, dass der katalanische und baskische Separatismus gegen das Völkerrecht verstoßen. Denn die Rekonstruktionen historischer Staatsgrenzen nach kulturellen Vorbildern stellt die heutigen Staatsgrenzen in Frage, insbesondere zu Frankreich und Italien.

♦  Katalonien gefährdet mit seiner Forderung nach  Unabhängigkeit den Frieden in Europa. Denn eine Reihe von EU-Mitgliedern wird es aus Sorge vor Nachahmeffekten niemals anerkennen. Dagegen findet es globale Unterstützer (z.B. in China, Russland u.a.), die von einer EU-Krise profitieren.

DIE ÖKONOMISCHE DIMENSION: DEM KATALANISCHEN SEPARATISMUS GEHT ES UMS GELD 

♦  Katalonien ist nicht nur die reichste autonome Gemeinschaft Spaniens, sondern auch die mit den höchsten öffentlichen Schulden. Seit der spanischen Bankenkrise in 2012 muss die Zentralregierung Katalonien mit Krediten aus dem Liquiditätsfonds stützen, d.h. mit Geld aus allen spanischen Regionen.

♦  Zwar hat Katalonien unter der sozialistischen Regierung Sonderbedingungen für die Vergabe der innerspanischen Kredite erhalten. Doch hat Madrid dadurch auch mehr Kontrolle über die regionale Finanzpolitik erhalten, von der sich Barcelona längerfristig befreien möchte. 

♦  Erklärtes Ziel Kataloniens ist die volle finanzielle Selbstverwaltung. Doch damit besteht für Spanien die Gefahr einer wachsenden öffentlichen Staatsverschuldung, die heute schon bei über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) liegt, 40 Prozent über der kritischen Marke des Euro-Stabilitätspakts. 

♦  Von der Eigenstaatlichkeit verspricht sich Katalonien einen direkten Zugang zu Geldern der Europäischen Zentralbank (EZB). Deshalb hatte Carles Puigdemont im Oktober 2017 nicht die Unabhängigkeit Kataloniens ausgerufen. Damit hätte es die EU bzw. die Eurozone verlassen.

Quelle: Eigene Zusammenstellung, vgl. Sabine Riedel, Der katalanische Separatismus: Kompromisslos aber „pro-europäisch“, Nachdruck in: Forschungshorizonte Politik & Kultur 8/2021, S. 9, Daten aus: Autonomous commutities of Spain Government debt. Stand: 14.10.2021.

DIE RECHTLICHE DIMENSION: KONKURRENZ ZWISCHEN NATIONALEM RECHT UND EU-RECHT

♦  Trotz der klaren Rechtslage auf der supranationalen EU-Ebene, der zufolge eine Abkehr von Spanien einem EU-Austritt gleichkäme, macht sich die katalanische Regionalregierung Hoffnungen auf eine „kreative Lösung“ der Katalonien-Krise, auf eine Einigung jenseits der EU-Verträge.

♦  Dabei hofft Katalonien auf eine wachsende Konkurrenz zwischen nationalem und EU-Recht. Es spekuliert auf eine Notlage, in der die supranationale Ebene aus Angst vor dem Staatszerfall eines Mitglieds der Eurozone Katalonien anerkennt, auch gegen den Widerstand Madrids. 

♦  Die Freie Europäische Allianz (EFA), eine europäische Dachorganisation aus „47 nationalistischen, regionalistischen and autonomistischen Parteien“ (Zitat: e-f-a.org), hat hierfür bereits ein Programm ausgearbeitet: Über eine „innere EU-Erweiterung“ soll aus der EU-27 eine EU-50 plus werden.

♦  Die aktuelle Kontroverse um eine Auslieferung Carles Puigdemonts an Spanien deutet auf wachsende Spannungen zwischen den nationalen Gerichten und dem Europäischen Gerichtshof (EUGH) hin. Derzeit muss sich der EUGH noch den spanischen Gesetzen beugen. …  

EIGENE PUBLIKATIONEN

▪ SABINE RIEDEL IM WISSENSCHAFTLICHEN DISKURS ZUM THEMA

Sabine Riedel, Der katalanische Separatismus: Kompromisslos aber „pro-europäisch“, Nachdruck in: Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 5, 8/2021, 17 Seiten; aktualisierter Nachdruck aus: R. Hrbek, M. Hüttmann, C. Thamm (Hg.), Autonomieforderungen und Sezessionsbestrebungen in Europa und der Welt. Beweggründe – Entwicklungen – Perspektiven, Baden-Baden 2020, S. 76-91. 

Sabine Riedel, Katalonien. Die europäische Dimension eines Regionalkonflikts, Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 3, 2019/12, 9 Seiten; Nachdruck aus: Jahrbuch des Föderalismus 2018 des Europäischen Zentrums für Föderalismus-Forschung Tübingen (Hg.), Baden-Baden 2018, S. 309-321.

Emma-Katharina David, Sabine Riedel, Europas Regionen: Brückenbauer oder Zankapfel? Theoretische Hintergründe und das Beispiel der Mehrsprachigkeit in Trentino-Südtirol, Italien, Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 3, 2019/8, 11 Seiten.

Sabine Riedel, Unabhängigkeits-Bewegungen in der EU? Wie der Separatismus das Friedenskonzept Europa in Beschlag nimmt und gefährdet, Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 3, 2019/1, 8 Seiten. 

Sabine Riedel, Sezession oder Solidarität. Beides zusammen wird Katalonien nicht bekommen, in: SWP-Aktuell 2018/A 25, Berlin, Mai 2018, 8 Seiten.

Sabine Riedel, Katalonien im Brennglas der EU-Krisen. Das Patt nach den Regionalwahlen vom 21.12.2017 ist ein Signal an Europas Reformer, Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 2, 2018/1, 8 Seiten.

Sabine Riedel, Streit um nationale Identitäten. Der Separatismus zielt auf eine „kulturelle“ Neuordnung Europas, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Vol. 28/2018, Forum, 12.07.2018

Sabine Riedel, Katalonien ist nur der Anfang …  Steigendes Konfliktpotential von Unabhängigkeitsbewegungen in der Europäischen Union, Forschungshorizonte Politik & Kultur, Vol. 1, 2017/2, 8 Seiten.

Sabine Riedel, Föderalismus statt Separatismus. Politische Instrumente zur Lösung von Sezessionskonflikten in Europa, SWP-Studien 2016/S 05, Berlin, April 2016, 36 S.

Sabine Riedel, Die Befragung zur Unabhängigkeit Kataloniens (9.11.2014). Ergebnisse, Hintergründe und Herausforderungen für Europa. SWP, Arbeitspapiere FG Globale Fragen, Berlin, 2014/ Nr. 03, November 2014, 26 S.

Sabine Riedel, Regionaler Nationalismus. Aktuelle Gefahren für die Europäische Integration, SWP-Studien, Berlin, S5/2006, Februar 2006, 40 S.

WICHTIGE QUELLENTEXTE

▪ DAS IST FÜR WISSENSCHAFTLER BESONDERS RELEVANT:

Barrios, Harald, 1997: Das politische System Spaniens, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas, Opladen, S. 549–587 (551). 

Der Generalstaatsanwalt des Landes Schleswig-Holstein 2017: Auslieferungssache 004 AuslA 18/18 GenStA Schleswig, 01.06.2018, S. 7–8.

Estado catalán […] en la creación de una Confederación de pueblos ibéricos, in: La Vangardia vom 15.04.1931, sowie: span. „Estado catalán dentro de la república federal española”.

European Free Alliance 2019: 2019 Manifesto. European Elections, Brüssel, S. 26.

Hrbek, Rudolf, Martin Große Hüttmann, Carmen Thamm (Hg.), Autonomieforderungen und Sezessionsbestrebungen in Europa und der Welt. Beweggründe – Entwicklungen – Perspektiven, Baden-Baden 2020.

Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung 2016, Eur-Lex, Der Zugang zum EU-Recht.

García Morales, María Jesús 2019: Bundeszwang und Sezession in Spanien: Der Fall Katalonien, in: Die Öffentliche Verwaltung, DÖV, 72. Jg. Heft 1, S. 1–13, (8).