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THEMA  2019

ISLAM ▪ CHRISTENTUM

SABINE RIEDEL

Die Religionsfreiheit ist in Europa ist ein demokratisches Grundrecht. Sie wird von UN-Menschenrechtsdokumenten geschützt und kann vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeklagt werden. Dieser weltweit einmalige Rechststandard beruht auf der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) des Europarats. Danach dürfen die Europäer ihren Glauben frei wählen, ihre Religion wechseln oder ganz ablegen. Aktuell stellt sich die Frage, ob diese Freiheiten durch die Einwanderung von Muslimen gefährdet sind. Denn sie werden häufig von Regierungen ihrer Herkunftsländer oder von transnationalen Netzwerken beeinflußt. Deshalb sollte sich die Europäer mehr für den Pluralismus im Islam interessieren, zum Schutz der eigenen Muslime und zur Lösung der aktuellen Konflikte in Nahost und Nordafrika.

RELIGIONSFREIHEIT ALS MENSCHENRECHT SEIT DER UN-CHARTA VON 1948

Als die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Jahre 1948 die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ (AEMR oder UN-Menschenrechtscharta) verkündeten, hatten sie auch die Religionsfreiheit in ihrem universellen, d. h. weltweit geltenden Normenwerk berücksichtigt. In Artikel 18 heißt es: »Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.« Diese Formulierung wurde von den UN-Menschenrechtspakten aus dem Jaher 1966 übernommen, nämlich als Artikel 18 (1) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (kurz UN-Zivilpakt). Er trat nach einem zehnjährigen Ratifikationsprozess im Jahre 1976 in Kraft und gilt heute in mehr als 170 der insgesamt 192 UN-Mitgliedstaaten.

Zum Schutz und zur Förderung der Menschenrechte haben die Vereinten Nationen auf ihrer Generalversammlung im Jahre 2006 den Menschenrechtsrat mit Sitz in Genf gegründet. Seine 47 Mitgliedstaaten, die für drei Jahre gewählt werden, überprüfen regelmäßig die Lage der Menschenrechte. Aller vier Jahre muss sich jedes UN-Mitglied einem besonderen Verfahren unterziehen, einer »universellen periodischen Staatenüberprüfung (Universal Periodic Review – UPR)«. Dabei kommen die Berichte des UN-Hochkommissars für Menschenrechte (UNHCHR) ebenso zur Sprache wie die der UN-Sonderberichterstatter, die der UN Menschenrechtsrat zur Unterstützung seiner Arbeit einsetzt. Seit 1986 gibt es sogar einen speziellen UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit, dessen Stellungnahmen und Länderberichte öffentlich zugänglich sind. Schließlich ist der UN-Menschenrechtsausschuss mit seinen 18 juristischen Experten für alle Beschwerden über Verstöße gegen die Menschenrechtspakte zuständig. Seine Urteile sind zwar völkerrechtlich nicht verbindlich, haben aber die Qualität bzw. Autorität eines Gerichtsurteils, sodass sie die Entscheidung der politischen Gremien beeinflussen können.

In Europa hat die Entwicklung der Menschenrechte mit der Gründung des Europarats im Jahre 1949 eine besondere Entwicklung erfahren. Denn dieser machte die Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK1950) zur Voraussetzung seiner Mitgliedschaft. Wie die UN-Menschenrechtspakte schützt auch die EMRK in Artikel 9 die Religionsfreiheit, jedoch in zweifacher Hinsicht: Neben der Freiheit, einen Glauben zu besitzen (»positive Religionsfreiheit«), wird auch das Recht anerkannt, keine Religion zu haben bzw. keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören. Für den Schutz dieser »negativen Religionsfreiheit« gibt es eine Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg. Mit ihrer Einklagbarkeit unterscheiden sich die 47 Mitgliedstaaten des Europarats von den Vereinten Nationen, denen eine solches juristisches Instrument fehlt. Die Europäische Union (EU) hat den Menschenrechtsschutz der EMRK übernommen und in ihre Europäische Grundrechtecharta (2009) integriert, so auch die Religionsfreiheit (Artikel 10). Sie verzichtete jedoch auf eine Weiterentwicklung und hat das Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften nicht gestärkt, so wie es wie z. B. die christlichen Kirchen aus Deutschland vorschlagen hatten.

DAS RECHT DER RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN  AUF SELBSTVERWALTUNG

Alle europäischen Bürger können also vor dem Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) jederzeit ihr Recht einklagen, ihre Religionsangehörigkeit frei zu wählen, zu wechseln oder aber keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören, ein weltweit unübertroffener Menschenrechtsstandard. Aufgrund ihrer unterschiedlichen historischen Entwicklung zeigen die europäischen Staaten allerdings große Unterschiede bei der nationalen Ausgestaltung ihres jeweiligen Staatskirchenrechts, d. h. des staatlichen Rechts gegenüber Religionen und Kirchen. Daran hat selbst der Prozess der Europäischen Integration seit Mitte das 20. Jahrhunderts nichts geändert. In einigen Ländern geht der Schutz der Religionsfreiheit wesentlich weiter als die EMRK oder die EU-Grundrechtecharta und umfasst den Schutz der Religions- und Glaubensgemeinschaften vor einer willkürlichen staatlichen Einflussnahme auf ihre Glaubenslehren und Selbstverwaltungsorgane. Erste Forderungen nach einer Selbstverwaltung europäischer Kirchen wurden in den Revolutionen der Jahre 1848/49 aufgestellt. Doch die Restauration der monarchischen Systeme verhinderte ihren Durchbruch, weil die Königshäuser Europas noch durch das Gottesgnadentum herrschten.

2.5.2 Christliche« Diktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland

Italien blieb nicht das einzige Land in Europa, wo demokratische Entwicklungen unter Indienstnahme des Christentums gewaltsam gestoppt wurden. In Spanien und Portugal war die Symbiose zwischen Kirche und Staat infolge der fünfhundertjährigen Kolonialherrschaft derart institutionalisiert, dass der Vatikan seiner Entmachtung und Enteignung nicht zuschaute, sondern nach Abdankung der Monarchen antidemokratische Kräfte förderte. So erlebte Portugal nach der Revolution von 1910 eine kurze demokratische Phase, die von einer politischen und wirtschaftlichen Instabilität geprägt war und in einer Militärdiktatur mündete. Die Generäle förderten den politischen Aufstieg des Katholiken António de Oliveira Salazar, der zunächst Finanzminister und ab 1932 Ministerpräsident wurde. Er sollte sich anders als Mussolini vier Jahrzehnte an der Macht halten. […]«

Danach habe Gott allein den Königen das Recht auf die weltliche Herrschaft gegeben. In den protestantischen Reichen, so z. B. in Preußen, waren die Monarchen sogar Oberhäupter ihrer Landeskirchen. Die Katholiken dagegen erhielten als christliche Minderheit erste Selbstverwaltungsrechte. Anders sah es in den katholisch dominierten Königreichen wie z. B. in Bayern aus: Dort war der Römische Papst das Kirchenoberhaupt der Katholiken, während die Protestanten den katholischen König als Kirchenoberhaupt akzeptieren mussten, d. h. keine Selbstverwaltungsrechte kannten. Daran änderte sich mit der Gründung des Deutschen Reichs im Jahre 1971 kaum etwas. Erst die Weimarer Verfassung (1919) stellte das Staatskirchenrecht auf eine neue, demokratische Grundlage. Die beiden Staatskirchen wurden abgeschafft, die Religionsfreiheit verkündet, das Selbstverwaltungsrecht der Kirchen anerkannt und schließlich das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat durchgesetzt, z. B. die von den Konfessionen unabhängige Besetzung öffentlicher Ämter. Diese neuen Freiheiten fielen jedoch schon bald der NS-Diktatur zum Opfer:

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT  EUROPAS,

VS-Verlag, Wiesbaden 2015, S. 48f., zum Buch  > 

»2.4.2 Die ideologische Gleichschaltung von Kultur und Wissenschaft

Die NS-Diktatur unterstützte nicht nur ihr genehme Fächer und Forschungsthesen durch eine antisemitische Personal- und Förderpolitik, sie griff zudem direkt in Lehre und Forschung ein. Für heutige Debatten relevant ist das Beispiel der Manipulation der Religionswissenschaften. Die Rolle des Fachs für die Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie ergab sich schon aus ihrer antisemitischen Orientierung. Doch das Judentum sollte auch als Religionsgemeinschaft aus der Öffentlichkeit verdrängt und später vernichtet werden. Hierfür hatte das NS-Regime verschiedene, sich teils widersprechende Pläne entwickelt. Der erste bestand in der Auflösung der Lehrstühle für jüdische Theologie, der nicht nur religiös gebundene Professuren zum Opfer fielen, sondern auch jene, die sich keiner Dogmatik verpflichtet fühlten, wie die des Frankfurter Religionsphilosophen Martin Buber. Die Aufhebung der in der Weimarer Republik angestoßenen Trennung von Kirche und Staat führte zu einer Verflechtung der NS-Diktatur mit christlichen Glaubensgemeinschaften. So orientierte der zweite Plan auf eine Unterstützung der christlichen Lehre in ihrem Antisemitismus, was zur Gründung der Deutschen Christen im Jahre 1932 aus dem Kreis evangelischer Landeskirchen führte. Die beiden letzten Ansätze blieben dagegen in ihren Anfängen stecken. Hierzu gehörten die Idee zur Initiierung eines heidnischen deutschen Glaubens mit dem offiziellen Status einer Religionsgemeinschaft und alternativ dazu die Schließung aller theologischen Fakultäten zugunsten einer vom NS-Regime kontrollierten konfessionsneutralen Religionswissenschaft. […]

SABINE RIEDEL: KIRCHE UND STAAT IN RUSSLAND. TRANSITIONEN UND KONTINUITÄTEN,

in: Daniel Bunčić, Nikolaos Trunte (Hg.), In: Iter philologicum. Festschrift für Helmut Keipert zum 65. Geburtstag, München 2006; Die Welt der Slaven, Sammelbände/Sborniki, Band 28, S. 319-331, zum Artikel >

»Seit Anfang der 1990er-Jahre ist eine enorme Aufwertung der Religion als Faktor in der nationalen und internationalen Politik zu beobachten. Als eine wesentliche Ursache hierfür lässt sich die neue Religionsfreiheit in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas benennen. Diese neue Freiheit wurde aber nicht nur von zahlreichen Menschen wahrgenommen, indem sie ihre Spiritualität und Religiosität nun öffentlich ausleben oder wiederzuentdecken beginnen. Eine Reihe politischer Akteure insbesondere aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nutzten die Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum als Legitimationsgrundlage zur Konsolidierung und Ausweitung ihres Machtbereichs. Die Religion berührt also seit 1990 den Kern staatlicher Souveränität. […]

2) Die Transition Russlands zum laizistischen Staat der UdSSR

An der völligen Unterordnung der Russisch-Orthodoxen Kirche unter den Staat sollte sich mit der Revolution im Jahre 1905 zunächst nichts Grundlegendes ändern, auch wenn ein Toleranzedikt nicht orthodoxen und nicht christlichen Glaubensgemeinschaften erstmals die freie Religionsausübung gestattete. Immer noch kontrollierte der vom Zar eingesetzte Oberprokuror den heiligen Synod. Erst im Revolutionsjahr 1917 kam es infolge der gesetzlichen Trennung von Kirche und Staat zur Wiederherstellung des Patriarchats, allerdings nur für kurze Zeit. Denn schon wenige Jahre nach der Gründung der Sowjetunion setzte die Sowjetregierung bzw. Stalin abermals einen Patriarchatsverweser ein, um ähnlich wie die Zarenherrschaft seit Peter dem Großen die Kirchenvertreter und deren Kirchenpolitik unter Kontrolle des sozialistischen Staates zu halten. Dieser Kontinuität des Herrschaftsanspruchs der weltlichen Macht gegenüber der Kirche steht allerdings eine Transition der Herrschaftsinhalte entgegen: Statt Orthodoxie, Autokratie und Nationalismus bildeten nun Atheismus, Kommunismus und Laizismus die wesentlichen Säulen der Sowjetherrschaft. […]. Ausgehend von diesen Erkenntnissen über die Rolle des Marxismus-Leninismus als Ersatzreligion bzw. politische Religion, stellt sich heute die Frage, welche Entwicklungswege dem Sowjetsystem offenstanden, um im Verlauf der heutigen Transformationsphase das Verhältnis von Kirche und Staat neu zu regeln. […]

4) Russland auf dem Wege zu einer säkularen Gesellschaft?

Welche politischen Ziele wird die neu gegründete Islamische Partei als Sammelbecken für alle Muslime Russlands zukünftig verfolgen? Bietet die Religionsfreiheit der Russischen Föderation noch zu wenige Entfaltungsmöglichkeiten für religiöse Minderheiten? Wollen die Muslime lediglich den Ansprüchen der Russisch-Orthodoxen Kirche auf die Rolle einer Staatskirche selbstbewusst entgegentreten? Schließlich werden sie Russland mit einer russisch-orthodoxen Staatsreligion kaum als ihren Staat betrachten. Oder erkennen führende Vertreter gar die Gunst der Stunde, um ihrerseits Einfluss auf die Politik auszuüben (vgl. www.islam.ru)?

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass auch die Muslime Russlands der unmittelbaren Einflussnahme des laizistischen sozialistischen Staats ausgesetzt waren. Denn schon vor dem Beginn der Systemtransformation gab es einen Muslimrat, der seinerzeit von Talgat Taddžutdin geleitet wurde. Dieser wollte sich mit seiner Ablösung durch den Mufti Ravil’ Gvajnutdin nicht abfinden und macht seither mit fundamentalistischen Forderungen von sich reden: So rief er die Muslime Russlands in den letzten Jahren nicht nur zum sogenannten Heiligen Krieg auf, er fordert auch die Einführung neuer islamischer Gedenk- und Feiertage […]. Die oben beschriebenen Entwicklungen deuten darauf hin, dass es Russland offensichtlich noch nicht gelungen ist, trotz seines Systemwandels eine säkulare Gesellschaft hervorzubringen, in der – mit den Worten von Juan Linz gesprochen – Kirche und Staat bzw. Religion und Politik freundschaftlich voneinander getrennt sind. Zu groß ist die Versuchung einer gegenseitigen Instrumentalisierung und Vorteilnahme.

Dennoch scheint es keinen anderen Weg als diesen zu geben, um ein friedliches Miteinander der verschiedenen Religionsgemeinschaften zu organisieren, zu denen übrigens auch die Bevölkerung jüdischen und buddhistischen, aber auch diejenige katholischen und protestantischen Glaubens gehört. Eine solche Entwicklung hängt von verschiedenen Bedingungsfaktoren ab. Auf Seiten des Staates und der politischen Organisationen wären dies: Religionsfreiheit und tatsächliche kirchliche Autonomie, der Verzicht auf eine Instrumentalisierung, eine gesetzliche Gleichstellung der Religionen und nicht zuletzt eine friedliche Konfliktlösung in Tschetschenien. Doch auch die Religionsgemeinschaften selbst haben eine Reihe von Voraussetzungen zu erfüllen; zu nennen sind u. a. eine religiöse Toleranz, der Verzicht auf Privilegien, keine offene politische Parteinahme sowie eine gesellschaftliche Öffnung.

VGL. SABINE RIEDEL: KIRCHE UND STAAT IN RUSSLAND. TRANSITIONEN UND KONTINUITÄTENS. 327.

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL, MUSLIME IN DER EUROPÄISCHEN UNION. NATIONALE INTEGRATIONSKONZEPTE IM VERGLEICH,

in: SWP-Studie, April 2005, S10, 46 S.

In der unten stehenden Abbildung wurden zwei Faktoren kombiniert, nämlich das Verhältnis zwischen Kirche bzw. Religionsgemeinschaften und Staat (Staatskirchenverhältnis) sowie der Ansatz zur sozialen Integration der Angehörigen verschiedener Religionen. Stattdessen wurde die Zahl der europäischen Staaten um einige Länder Osteuropas erweitert. Hieraus ergibt sich eine interessante Entwicklungstendenz: Seit 1990 haben einige Länder Westeuropas ihr Staatskirchentum aufgegeben und damit die Selbstverwaltung der Religionsgemeinschaften gestärkt. Dies führte jedoch nicht zu einem säkularen, sondern zu einem kooperationistischen Modell. Der Demokratisierungsprozess der Länder Osteuropas zeigt ein ähnliches Ergebnis, jedoch haben diese Länder dafür ihr laizistisches Modell aufgegeben, das die Kirchen bzw. Religionen direkt kontrolliert bzw. verwaltet. Heute zeigen sie mehr Respekt gegenüber deren Selbstverwaltung. Die Probleme zeigen sich heute auf gesellschaftlicher Ebene, in der Tendenz zu Parallelgesellschaften und der indirekten staatlichen Einflussnahme.

DIE INTEGRATION VON MUSLIMEN IN DAS CHRISTLICH GEPRÄGTE EUROPA

Erster Indikator ist die staatsbürgerliche Stellung der Muslime, die meist eng mit den historischen Umständen ihrer Einwanderung zusammenhängt. Hierbei spielen die koloniale Vergangenheit des betreffenden Staates wie auch seine Einwanderungspolitik eine Rolle. Der zweite Indikator betrifft den konkreten säkularen Rahmen des jeweiligen Einwanderungslandes, von dem bereits oben allgemein die Rede war. Dabei interessiert uns die Frage, inwieweit das Verhältnis von Kirche und Staat vom Idealbild einer säkularen Trennung abweicht und ob dabei nicht christliche Religionsgemeinschaften womöglich benachteiligt werden. Die soziale Stellung der muslimischen Einwanderer und deren regionale Verteilung etwa auf bestimmte Städte oder Stadtbezirke ist der dritte Indikator zur Beurteilung der bisher geleisteten Integrationspolitik. Dabei werden bestehende Defizite zur Sprache kommen, die mit den Instrumenten der Einwanderungs- und Religionspolitik allein nicht beseitigt werden konnten. Als vierter Indikator interessiert uns die politische Repräsentanz muslimischer Einwanderer. Hier wird die Frage zu erörtern sein, welche Möglichkeiten Muslimen zur Verfügung stehen, politisch aktiv zu werden, ohne dabei die verfassungsmäßige Trennung von Kirche bzw. Religion und Staat zu verletzen.«

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL, MUSLIME IN DER EUROPÄISCHEN UNION. NATIONALE INTEGRATIONSKONZEPTE IM VERGLEICH,

in: SWP-Studie, April 2005, S10, 46 S.

In der unten stehenden Abbildung wurden zwei Faktoren kombiniert, nämlich das Verhältnis zwischen Kirche bzw. Religionsgemeinschaften und Staat (Staatskirchenverhältnis) sowie der Ansatz zur sozialen Integration der Angehörigen verschiedener Religionen. Stattdessen wurde die Zahl der europäischen Staaten um einige Länder Osteuropas erweitert. Hieraus ergibt sich eine interessante Entwicklungstendenz: Seit 1990 haben einige Länder Westeuropas ihr Staatskirchentum aufgegeben und damit die Selbstverwaltung der Religionsgemeinschaften gestärkt. Dies führte jedoch nicht zu einem säkularen, sondern zu einem kooperationistischen Modell. Der Demokratisierungsprozess der Länder Osteuropas zeigt ein ähnliches Ergebnis, jedoch haben diese Länder dafür ihr laizistisches Modell aufgegeben, das die Kirchen bzw. Religionen direkt kontrolliert bzw. verwaltet. Heute zeigen sie mehr Respekt gegenüber deren Selbstverwaltung. Die Probleme zeigen sich heute auf gesellschaftlicher Ebene, in der Tendenz zu Parallelgesellschaften und der indirekten staatlichen Einflussnahme.

»Kirche und Staat hatten […] in Europa ein sehr wechselhaftes Verhältnis. Im 19. Jahrhundert war es von harten innenpolitischen Auseinandersetzungen, im 20. Jahrhundert von der Herrschaft totalitärer und autoritärer Regime geprägt. Daher begegnen wir heute ganz unterschiedlichen Formen von Säkularität selbst innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Sie bilden die Grundlage der verschiedenen Strategien zur Integration der zugewanderten Bevölkerung nicht christlichen Glaubens nach dem Zweiten Weltkrieg. Im folgenden Kapitel soll der Versuch unternommen werden, diese unterschiedlichen Integrationskonzepte vorzustellen und nach ihrer Integrationsleistung zu bewerten. Dabei wurden mit Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden absichtlich solche Länder ausgewählt, die nicht nur durch ihre Größe und die Zahl ihrer muslimischen Einwanderer ins Gewicht fallen, sondern deren Lösungen bei der Ausgestaltung des Säkularismus auch stark voneinander abweichen. […]

in: 
Julia Gerlach, Jochen Töpfer (Hg.): The Role of Religion in Eastern Europe Today, Wiesbaden 2015, S. 55-79, S. 73, zum Artikel >

VGL. SABINE RIEDEL, THE ROLE OF DEMOCRATIC STATE IN INTER-RELIGIOUS RELATIONS. THEORETICAL AND HISTORICAL CONSIDERATIONS IN RESPECT OF COUNTRIES IN TRANSITION,

»Since the end of the Cold War and the fall of the Berlin Wall in 1989, all the countries of Eastern Europe began a deep transition process characterized by the opening of their economies and changes in their political systems towards democracy. The new political framework directly affected the status and working conditions of churches and religious communities in many respects: First, the collapse of the socialist systems was mainly caused by the loss of political legitimacy of the ruling communist parties. New democratic values pushed back their socialist ideology together with its anti-clerical and anti-religious views. Secondly, the disappearance of an official state doctrine initiated a search for a new national identity in cultural and religious terms. Thirdly, people were no longer afraid to openly express their religious consciousness or affiliations, so that societies gradually developed forms of cultural and religious pluralism. Finally, all Eastern European countries adopted the European convention on Human Rights (1950) and joined the European Council of Europe, ensuring freedom of religion as well as self-determination for religious groups and their institutions.

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT  EUROPAS,

VS-Verlag, Wiesbaden 2015, S. 130f., zum Buch  > 

In short, identity, legitimacy, autonomy, cultural rights, and religious values became key issues in transition countries describing and rewriting the relationship between state and churches and interreligious relations. The first section of this chapter will give a short theoretical introduction to this topic.

This paper analyses the new church/state and inter-religious relations in three transition countries characterized by their cultural, ethnic, and religious diversity: the Russian Federation, and two Balkan countries: Bulgaria, and Bosnia and Herzegovina (chapter section 3). To this day, all these countries suffer from democratic deficits, which raises the question of whether the lack of democratic structures is responsible for the existing interethnic and inter-religious tensions; or, to pose the question another way: To what extent have state institutions and public bodies already developed concepts or strategies for managing and resolving social conflicts between groups with different religious consciousness, values, and identities? In order to understand the essential task of democratic states as a neutral authority in interfaith disputes, the second chapter section of this article covers Europe’s experience with monarchies and authoritarian regimes, where ruling elites justified their power and privileged position through specific cultural or religious values. A further chapter section examines the advanced democracies of Western Europe, which needed to adopt methods to integrate large numbers of immigrants of different faiths. This comparison may serve to illustrate that countries in transition—similarly to other modern societies—face choices between various approaches to mediating inter-religious tensions. Finally, we have to discuss not only the necessities but also the boundaries of governmental regulation, which are determined by norms of democracy and human rights.«

IN: SABINE RIEDEL, MODELS OF CHURCH-STATE RELATIONS IN EUROPEAN DEMOCRACIES,

in: Journal of Religions in Europe, Vol. 1, Nr. 3, 2008, 
S. 251-272, zum Artikel >

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL, DER VIELSTIMMIGE ISLAM IN EUROPA. MUSLIMISCHE BEITRÄGE ZU INTEGRATIONSDEBATTEN,

in: SWP-Studie, Juni 2010, S 17, 44 S, zur Studie >

»Problemstellung und Schlussfolgerungen

Im aktuellen Diskurs um die Defizite der gesellschaftlichen Integration in Europa wurde bislang ein wichtiger Aspekt zu wenig beleuchtet, nämlich welchen Beitrag die Muslime bisher selbst zu den Integrationsdebatten geleistet haben. In welchem Kontext haben sie ihre jeweiligen Positionen entwickelt und auf welcher Grundlage legitimieren sie ihre Standpunkte? Um dieser Leitfrage nachzugehen, wurden vier Themenbereiche zur Integration ausgewählt, die bereits als Schwerpunkte von der Deutschen Islam Konferenz (DIK) bearbeitet werden. Dabei liegt der Fokus der vorliegenden Analyse primär auf den Erfahrungen anderer europäischer Staaten. Diese vier zentralen Themen sind das Tragen von Kopftuch bzw. Schleier, der Bau von Moscheen und islamischen Zentren, das Verhältnis von religiösem Recht und säkularer Gesellschaft sowie die politische Partizipation der Muslime im Rahmen der gegebenen politischen Systeme. […]

Das Verbot von Kopftuch bzw. Schleier in öffentlichen Einrichtungen wird auch unter Muslimen unterschiedlich bewertet. Aus den religiösen Quellen wie dem Koran lassen sich weder eindeutige Vorschriften zur islamischen Kleiderordnung ableiten noch das Neutralitätsgebot staatlicher Institutionen in Frage stellen. Dies erklärt den aktuellen Diskurs in den Herkunftsländern Nordafrikas, wo angesehene Geistliche den Ganzkörperschleier sogar als unislamisch ablehnen. In Europa dagegen verteidigen große Verbände wie Millî Görüş das Tragen des Schleiers als religiöse Pflicht. Andere Vereinigungen wie die DİTİB, die den türkischen Staatsislam vertritt, beschränken ihre Bekleidungsvorschriften für Frauen auf das Kopftuch, aber erst seit einigen Jahren. Die DİTİB folgte dem Beschluss des Hohen Rats der türkischen Religionsbehörde Diyanet, der kurz nach dem Antritt der AKP-Regierung im Jahre 2002 das Tragen des Kopftuchs in der Öffentlichkeit zur religiösen Pflicht erklärte. Dem gegenüber stehen die Lehrmeinungen anderer islamischer Theologen, die den Frauen diese Entscheidung selbst überlassen. Schließlich verteidigen die Aleviten sogar das Kopftuch- bzw. Burkaverbot in öffentlichen Institutionen, weil sie deren religiöse Neutralität als Schutz des religiösen Pluralismus betrachten.

In Südosteuropa gehören die Moscheen mit ihren Minaretten zwar zu einer jahrhundertealten Kulturgeschichte. Dennoch gibt es kontroverse Auseinandersetzungen über ihren Wiederaufbau nach dem Ende des Bürgerkriegs im ehemaligen Jugoslawien und über die Rückgabe verstaatlichten Eigentums. Der kritische Punkt liegt darin, dass externe Akteure wie etwa ausländische Staaten als Geldgeber für den Bau von Moscheen und islamischen Zentren auftreten und damit die Autonomie der Muslime mit ihren eigenen religiösen Traditionen einschränken. So hat sich das religiöse Oberhaupt des bosnischen Islam, Mustafa Cerić, erst auf Drängen der USA von der wahhabitischen Lehrmeinung Saudi-Arabiens distanziert, deren Vertreter mittelalterliches Scharia-Recht in Bosnien wiederbeleben möchten. In Bulgarien steht vor allem der wachsende politische Einfluss der Türkei in der Kritik, weil die von Ankara entsandten Geistlichen den türkischen Staatsislam vertreten, statt die bulgarischen Traditionen zu beleben und zu fördern. […]

Hinter dem vom Ausland gesponserten Bau von Moscheen und islamischen Zentren steht das Problem, dass die muslimischen Gemeinden in Europa über wenige Eigenmittel verfügen. Dies hat mit der mangelnden rechtlichen Stellung der muslimischen Verbände zu tun. Wie jedoch Beispiele aus Frankreich und Österreich zeigen, trägt auch die Rivalität zwischen einigen Dachverbänden dazu bei, dass die angebotene staatliche Unterstützung ins Leere läuft. So hat sich schon 1979 die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) als Körperschaft des öffentlichen Rechts konstituiert. Doch die großen Dachverbände verweigern die Zusammenarbeit, weil sie wie in Deutschland als eigene Religionsgemeinschaften anerkannt werden möchten. Zu prüfen wäre, ob ihnen dieser Status tatsächlich gebührt. Dies setzt eine Offenlegung ihrer Mitgliederzahlen und vor allem den Nachweis voraus, dass ihre Repräsentanten über den nötigen theologischen Sachverstand verfügen. Sie sollten darlegen können, wie sich ihre speziellen Lehren und Positionen im vielstimmigen Islam Europas verorten. […]

Das verstärkte politische Engagement von muslimischen Einwanderern und deren Nachkommen in den Parteien Großbritanniens ist eine positive Entwicklung, von der die anderen europäischen Länder lernen können. Denn sie weist über die Vielstimmigkeit des Islam in Form verschiedener Religionsgemeinschaften weit hinaus und belegt die Meinungsvielfalt der europäischen Muslime auch in Politik und Gesellschaft, die sich nicht von einzelnen Dachverbänden vereinnahmen lassen. Die muslimischen Vereine, die im Namen des Islam als Religionsgemeinschaften auftreten, sollten dagegen stärker als bisher an ihren theologischen Kompetenzen und daran gemessen werden, was sie innerhalb der säkularen Gesellschaften Europas zum interreligiösen Dialog beitragen.«

RELIGION UND POLITIK IN DER ISLAMISCH GEPRÄGTEN STAATENWELT

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT  EUROPAS,

» 4.3.1 Die arabische Staatenwelt als Resultat des Kolonialismus

Bis Ende des 18. Jahrhunderts gehörte der überwiegend arabischsprachige Raum Nordafrikas und des Nahen Ostens zum osmanisch-türkischen Herrschaftsbereich, dessen Sultane sich gegen die territorialen Begehrlichkeiten der europäischen Kolonialmächte zur Wehr setzten. Neben militärischen Strategien sollten bald auch erste Modernisierungsprojekte das Reich im Inneren stabilisieren. Doch als der in Frankreich ausgebildeten Sultan Abdülmecid I. (reg. 1839-1861) sein Reformwerk (osm. Tanẓīmāt, Neuordnung) auf den Weg brachte, war der Desintegrationsprozess nur noch schwer aufzuhalten. Nach den Feldzügen Napoleons fiel der Westen Nordafrikas unter französische Kolonialherrschaft, während das heutige Libyen ein Jahrhundert später unter italienischen Einfluss geriet.

Der Osten Nordafrikas, das heutige Ägypten, blieb dagegen noch bis 1914 Teil des Osmanischen Reichs, wurde allerdings schon seit 1811 von der Dynastie des Muḥammad ʿAlī Bāšā halbautonom regiert und ab 1882 von Großbritannien verwaltet. Infolge dieser allmählichen Machtverschiebung lebten im Jahre 1900 von den ca. 200 Millionen Muslimen weltweit nur noch ein Fünftel, also 41 Millionen in unabhängigen Staaten, davon 20 Millionen im Osmanischen Reich. […] Diese Rahmenbedingungen sollten das Verhältnis von Staat und Religion in der muslimischen Welt entscheidend prägen und Grundsteine für die heutigen Konflikte legen. Zum einen machte Abdülhamid II. (reg. 1876-1909) die Tanẓīmāt-Reformen seiner Vorgänger für den Niedergang seines Reichs verantwortlich. Deshalb restaurierte er das absolutistische Herrschaftssystem, indem er die Staatsdoktrin des Osmanismus, der alle Untertanen als gleichberechtigte Staatsbürger betrachtete, durch den Panislamismus ersetzte. Diese neue Ideologie stärkte die Verbindung der weltlichen Sultansherrschaft mit dem Amt des Kalifen als religiöses Oberhaupt der Sunniten (arab. ḫalīfa – Nachfolger Mohammeds).

Die absolutistische Verfassung (1876) bezeichnete den Kalif-Sultan als Beschützer des Islam und weltlichen Imperator (osm. padişah) aller osmanischen Untertanen. Darüber hinaus gab Artikel 27 dem Sultan das Recht, die oberste islamische Geistlichkeit, den Scheich-ül Islam (osm. şeyhülislam), zu bestimmen und in seine Regierung einzubinden. Dadurch wurden Strukturen der religiösen Selbstverwaltung aufgelöst und sämtliche islamische Institutionen dem Staat unterstellt. […] Die Auflösung des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg und die Abschaffung des Kalifats durch die kemalistische Türkei im Jahre 1924 löste in der arabischsprachigen Welt einen heftigen Streit um die Nachfolge dieser obersten religiösen Instanz des sunnitischen Islam aus. Als Erster ernannte sich der Haschemit al-Ḥusain ibn ʿAlī zum neuen Kalifen, schließlich gehört seine Dynastie zu den direkten Nachfahren des Religionsstifters Mohammed, die über Jahrhunderte hinweg die heiligen Städte Mekka und Medina verwalteten.

Bereits im Jahre 1916 konnte er mit Hilfe Großbritanniens die historische Region des Hedschas (ar. al-Ḥiǧāz) zum unabhängigen Königreich erklären. Seine weiterreichenden Machtambitionen kreuzten allerdings britisch-französische Interessen über die Aufteilung des osmanischen Erbes. Der Beduinenfürst ʿAbd al-ʿAzīz aus dem Hause Saʿūd wusste diesen Konflikt zu nutzen und eroberte den Hedschas, um ihn seiner neuen Monarchie Saudi-Arabien einzuverleiben. Auch wenn sich die Haschemiten mit dem benachbarten jordanischen Königreich zufriedengeben mussten, so zeigt sich deren Rivalität bis heute im Kampf um die Deutungshoheit des Islam: Während das saudische Königshaus eine Symbiose mit Religionsführern des äußerst konservativen Wahhabismus einging und ihnen im Rahmen der Scharia-Rechtsordnung das Justizministerium übertrug, geben sich die Haschemiten einen liberalen Anstrich. Die Anerkennung nichtislamischer Religionsgemeinschaften kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine islamischen Institutionen unter der Kontrolle des Königs stehen, so z. B. das Amt des Großmuftis von Jordanien. Die britische Mandatsherrschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte oder wollte offenbar keinen Einfluss darauf nehmen, dass sich auf dem Gebiet des untergegangenen Osmanischen Reichs fortschrittliche politische Systeme etablieren. Im Gegenteil, es setzten sich unter ihrer Obhut Monarchien durch, die eher der absolutistischen Herrschaft osmanischer Sultane glichen und die Reformkonzepte des Osmanismus völlig ignorierten.

Vgl.: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT  EUROPAS,

VS-Verlag, Wiesbaden 2015, S. 48f., zum Buch  > 

Diese Beobachtung gilt auch für die Emirate am Persischen Golf, die bis zum Jahre 1971 unter britischem Protektorat standen. Heute gleichen Bahrain, Katar sowie die sieben Scheichtümer der Vereinigten Arabischen Emirate in ihrer politischen und gesellschaftlichen Entwicklung europäischen Fürstentümern bzw. Königreichen wie Großbritannien des 19. Jahrhunderts. Deren Herrscher beriefen sich auf das Gottesgnadentum und leiteten hieraus die politische Kontrolle ihrer jeweiligen Staatsreligionen ab. Auch Ägypten folgte anfangs dem Modell eines solchen Sultanats, als es sich unter britischer Schutzherrschaft von den Osmanen (1914) lossagte. Zwischen 1922 und 1952 war es dann ein unabhängiges Königreich, dessen Herrscher sich auf das Scharia-Recht und konservative Theologen stützten. Deshalb löste das Werk »Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft« (1925) einen Skandal aus, weil der ägyptische Rechtsgelehrte ʿAlī ʿAbd ar-Rāziq darin die These vertrat, dass der Islam keine spezielle Regierungsform vorschreibe und es keines Kalifats als weltlicher und religiöser »Oberaufsicht« bedürfe.

DIE POLITISCHEN SYSTEME IN DER ISLAMISCH GEPRÄGTEN WELT WÄHREND DES ARABISCHEN FRÜHLINGS

Republik: Türkei

Arabische Republiken: اAlgerien, Ägypten, Dschibuti, Irak, Jemen, Komoren, Libanon, Libyen, Mauretanien, (Palästina), Somalia, Sudan, Syrien, Tunesien

Staatsreligion: Islam

Wahlen legitimieren die politische Macht

Verfassungen garantieren:
Gewaltenteilung, Parteien,
Parlament und partiellen Rechtsstaat

Staatspräsident begrenzt
nationale Parlamente

Religionsministerien
verwalten den Staatsislam, Religionsfreiheit ist eingeschränkt, begrenzte Freiheiten für religiöse Minderheiten

TheokratieIran

Königreiche / Scheichtümer: Bahrain, Jordanien, Katar, Kuweit, Marokko, Oman, Saudi-Arabien, VAE (Vereinigte Arabische Emirate)

Staatsreligion: Islam

Islamische Lehre (Wahhabismus in den Golfstaaten) legitimiert die Macht des Monarchen

Keine Gewaltenteilung
(Saudi-Arabien) oder eine
stark eingeschränkte mit
rudimentärem Parlament

Monarch / Emir ernennt
Mitglieder des Rats (Mağlis), Regierung, Richter; z. T. auch islamische (Rechts-)Gelehrte (Marokko)

Keine Religionsfreiheit, nur z. T. Autonomie religiöser Minderheiten (Jordanien)

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL, DER VIELSTIMMIGE ISLAM IN EUROPA. MUSLIMISCHE BEITRÄGE ZU INTEGRATIONSDEBATTEN,

in: SWP-Studie, Juni 2010, S 17, 44 S, zur Studie >

»Problemstellung und Schlussfolgerungen

Im aktuellen Diskurs um die Defizite der gesellschaftlichen Integration in Europa wurde bislang ein wichtiger Aspekt zu wenig beleuchtet, nämlich welchen Beitrag die Muslime bisher selbst zu den Integrationsdebatten geleistet haben. In welchem Kontext haben sie ihre jeweiligen Positionen entwickelt und auf welcher Grundlage legitimieren sie ihre Standpunkte? Um dieser Leitfrage nachzugehen, wurden vier Themenbereiche zur Integration ausgewählt, die bereits als Schwerpunkte von der Deutschen Islam Konferenz (DIK) bearbeitet werden. Dabei liegt der Fokus der vorliegenden Analyse primär auf den Erfahrungen anderer europäischer Staaten. Diese vier zentralen Themen sind das Tragen von Kopftuch bzw. Schleier, der Bau von Moscheen und islamischen Zentren, das Verhältnis von religiösem Recht und säkularer Gesellschaft sowie die politische Partizipation der Muslime im Rahmen der gegebenen politischen Systeme. […]

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL, INTERRELIGIÖSE DIALOG-INITIATIVEN. ZUR AUSWÄRTIGEN KULTURPOLITIK ISLAMISCHER STAATEN,

in: Doron Kiesel/Ronald Lutz (Hg.), Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Campus-Verlag, Frankfurt/M. 2015, S. 331-356, zum Artikel >

»Seit Beginn des neuen Jahrtausends ist ein enormer Anstieg an interkulturellen und interreligiösen Dialog-Initiativen von globaler Reichweite zu verzeichnen. Theologen der Universität Oslo haben eine Liste von ca. 49 internationalen Initiativen erstellt, die allein den christlich-muslimischen Dialog fördern (Leirvik). Die meisten Initiativen kommen derzeit aus der MENA-Region, d. h. aus den muslimisch geprägten Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens, und sind vor allem an die westliche Welt bzw. an Europa gerichtet. An erster Stelle wurden sie vom Iran, der Türkei und Saudi-Arabien initiiert, die gleichzeitig als Konfliktparteien an gewaltsamen Konflikten des Nahen Ostens beteiligt sind. Daneben gibt es noch drei weitere Länder, deren Engagement zwar in Europa weniger bekannt ist, die aber aus verschiedenen Gründen Aufmerksamkeit verdienen: So hat Marokkos auswärtige Religions- und Kulturpolitik im Rahmen seiner Mitarbeit in der euromediterranen Anna-Lindh-Stiftung unmittelbare Auswirkungen auf seine Migranten und deren Nachkommen in Europa. Die Initiative des Libanon ist von besonderem Interesse, weil er schon seit Jahrzehnten unter den Auswirkungen des Nahost-Konflikts leidet und deshalb über wertvolle Erfahrungen mit dem Dialog unterschiedlicher Konfessionen verfügt. Schließlich wurde in dieser Analyse noch Jordaniens Engagement für den interreligiösen Dialog aufgegriffen, weil es dort im Gegensatz zu Saudi-Arabien oder dem Iran tatsächlich mehr interreligiöse Begegnungen gibt und diesem Land eine religiöse Führungsrolle in den palästinensischen Autonomiegebieten zugestanden wurde. […]

Von den sechs untersuchten Initiativen der islamischen Welt sticht Jordaniens Engagement für den interreligiösen Dialog besonders ins Auge, nicht nur weil es bereits ein halbes Jahrhundert zurückreicht. Vor allem hat das haschemitische Königreich die Messlatte, d.h. die eigene Zielsetzung, nicht zu hoch gelegt, sondern von vornherein klargestellt, dass die Religion und somit der jordanische Staatsislam entscheidend für das eigene Kulturverständnis ist. Auf dieser Basis begegnet Jordanien christlichen und anderen Religionsgemeinschaften quasi auf gleicher Augenhöhe und bietet anderen islamischen Staatsreligionen einen inter-islamischen Dialog an.

Im Gegensatz hierzu weist die Initiative Saudi-Arabiens, das König-Abdullah-Zentrum (KAICIID) in Wien, als eines der jüngsten internationalen Dialogprojekte die größten Defizite bei der Umsetzung auf. Riad verweigert nach seiner wahhabitischen Lehre nicht nur allen übrigen Konfessionen die Religionsfreiheit, sondern ist auch anderen islamischen Lehren gegenüber abwehrend bis feindlich gesinnt, insbesondere gegenüber der eigenen schiitischen Minderheit.

Dabei verfügen nicht alle 43 Mitgliedsorganisationen über entsprechende demokratische Institutionen, sprich über eine funktionstüchtige Nationalversammlung. Dass ausgerechnet das Königreich Marokko den Vorsitz innehat, muss aus einem weiteren Grund verwundern: Auch dort ist der marokkanische Islam Staatsreligion, der zwar nichtmuslimischen Konfessionen begrenzte Freiheiten gewährt, den eignen Muslimen jedoch im Falle eines Religionsaustritts mit der Todesstrafe droht. So ist denn auch die Religionspolitik nordafrikanischer Staaten kaum Thema dieser Dialog-Initiative, obwohl sie unmittelbar auf deren Auswanderer in EU-Mitgliedstaaten einwirkt und nach den Strategien ihrer religiös ausgerichteten auswärtigen Kulturpolitik auch einwirken soll.«

 

QUELLE: SABINE RIEDEL, INTERRELIGIÖSE DIALOG-INITIATIVEN. ZUR AUSWÄRTIGEN KULTURPOLITIK ISLAMISCHER STAATEN, IN: DORON KIESEL/RONALD LUTZ (HG.),

Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Campus-Verlag, Frankfurt/M. 2015, S. 331-356, S. 351.

INTER-ISLAMISCHER PLURALISMUS ALS VISION FÜR DIE ARABISCHE WELT

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL, INTERRELIGIÖSE DIALOG-INITIATIVEN. ZUR AUSWÄRTIGEN KULTURPOLITIK ISLAMISCHER STAATEN,

in: Doron Kiesel/Ronald Lutz (Hg.), Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Campus-Verlag, Frankfurt/M. 2015, S. 331-356, zum Artikel >

»So lässt sich als Untersuchungsergebnis festhalten, dass die einzelnen internationalen Dialogprojekte in den jeweiligen initiierenden Staaten selbst nur eine mangelnde öffentliche Unterstützung genießen. Hinzu kommt ein entscheidendes konzeptionelles Defizit: Zwar richten sich alle Initiativen an Dialogpartner aus unterschiedlichen Weltreligionen, doch tragen sie dem pluralistischen Charakter des Islam kaum Rechnung. Dies wurde spätestens mit Beginn des Arabischen Frühlings offensichtlich: Es gab keine interreligiösen Dialoge zugunsten demokratischer Veränderungen, vielmehr hat sich die Konkurrenz zwischen verschiedenen islam(ist)ischen Strömungen verschärft. Derzeit verteidigen die Konfliktparteien Türkei, Saudi-Arabien und der Iran ihre Einflusssphären in Nordafrika und im Nahen Osten mit Hilfe rivalisierender Gesellschaftskonzepte zwischen Religion und Politik.

Dabei verfügen nicht alle 43 Mitgliedsorganisationen über entsprechende demokratische Institutionen, sprich über eine funktionstüchtige Nationalversammlung. Dass ausgerechnet das Königreich Marokko den Vorsitz innehat, muss aus einem weiteren Grund verwundern: Auch dort ist der marokkanische Islam Staatsreligion, der zwar nichtmuslimischen Konfessionen begrenzte Freiheiten gewährt, den eignen Muslimen jedoch im Falle eines Religionsaustritts mit der Todesstrafe droht. So ist denn auch die Religionspolitik nordafrikanischer Staaten kaum Thema dieser Dialog-Initiative, obwohl sie unmittelbar auf deren Auswanderer in EU-Mitgliedstaaten einwirkt und nach den Strategien ihrer religiös ausgerichteten auswärtigen Kulturpolitik auch einwirken soll.«

 

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL. ANNA MÜHLHAUSEN (HG.): ALGERIEN ZWISCHEN TRANSFORMATION UND KONTINUITÄT.
STABILISIERUNG AUTORITÄRER HERRSCHAFT AM RANDE DES ARABISCHEN FRÜHLINGS,

in: SWP-Arbeitspapier, FG Globale Fragen, Mai 2015, 51 S, zum Arbeitspapier >

3.4.3 Diskurse um die religiöse Selbstverwaltung

Schon seit dem Jahre 2006 liegen im Religionsministerium Pläne in der Schublade, eine neue religiöse Institution zu schaffen, nämlich ein sogenanntes ’Iftā’-Amt (vgl. arab. دار للإفتاء), das nach seinem ägyptischen Vorbild auch als Fatwa-Amt bezeichnet wird. Anlass hierfür gibt die Zahl von rund 2.500 Anfragen zu religiösen Rechtsgutachten, d. h. Fatwas, die wöchentlich an die Religionsbehörde gerichtet werden. Den Reformplänen zufolge sollten sich in Zukunft kompetente islamische Rechtsexperten damit befassen. Gleichzeitig will man die Verwaltungszentrale dieses neu zu schaffenden Amts in der Großen Moschee von Algier ansiedeln. Dieser Vorschlag stößt beim Hohen Muslimrat (HCI) auf Ablehnung, weil dieser befürchtet, dass mit der Verlagerung dieser Kompetenzen von der Religionsbehörde in die Moscheen ihre Autorität bei der Auslegung islamischen Rechts schwindet. Doch genau das ist von der Regierung beabsichtigt. Denn der HCI ist gemäß Artikel 172 der Verfassung kein religiöses Fachgremium, sondern ein Beratungsorgan des Staatspräsidenten, der überwiegend aus theologischen Laien besteht […]. Deshalb genießt er keine religiöse oder spirituelle Autorität, die Streitfälle überzeugend schlichten könnte. Stattdessen hören die Gläubigen einen vielstimmigen Chor an religiösen Gutachtern, die auch aus dem Ausland kommen.

Über Fernsehen und Radio melden sich Rechtsgelehrte, d.h. ʿUlamāʾ, aus der gesamten islamischen Welt zu Wort, um religiöse Themen zu diskutieren. Dabei empfehlen sie den algerischen Gläubigen die Anwendung ihrer Fatwas. Ein neu zu schaffendes ’Iftā’-Amt mit einem offiziellen Repräsentanten des algerischen Islam an seiner Spitze soll dieses entstandene »Fatwa-Chaos« entwirren.

Allerdings stößt die Regierung mit diesem Vorschlag nicht nur beim Muslimrat auf Widerstand. Kritik kommt auch von gläubigen Muslimen, die darin keine wirkliche Reform zugunsten einer Selbstverwaltung ihrer Religionsgemeinschaft entdecken. Im Gegenteil, nach den derzeitigen Plänen des Religionsministeriums soll auch das neue ’Iftā’-Amt dem Staatspräsidenten unterstellt werden. Damit bliebe das laizistische Dominanzverhältnis des Staates erhalten, sodass der politische Wettstreit um den Einfluss auf die religiösen Institutionen Algeriens fortbestünde und sogar von neuem angefacht werden könnte. Kritische Stimmen befürchten daher, dass die weitere Institutionalisierung des algerischen Islam einem Ausbau der staatlichen Kontrollmechanismen dienen könnte. Daher rufen sie die bewegte Kultur- und Religionsgeschichte Algeriens in Erinnerung […] und verweisen darauf, dass die Wahl eines Religionsoberhaupts auf die Osmanenherrschaft zurückgeht. Zudem haben erst die Sultane des 19. Jahrhunderts die Kompetenz an sich gerissen, als weltlicher Herrscher das religiöse Amt des Şeyh-ül islam personell zu besetzen. […]