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THEMA  2017

FRIEDEN ▪ KONZEPTE

SABINE RIEDEL

Ein Grund für den Anstieg von Krieg und Gewalt auf dem gesamten Globus liegt im Verlust an funktionierender Staatlichkeit. Diese bildet nicht nur die Grundlage für »gutes« Regieren, sondern ist die Voraussetzung für jedweden Reformprozess zugunsten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Diese staatlichen Steuerungskompetenzen gingen jedoch im Zuge der Transformationsprozesse in Osteuropa und in der arabischsprachigen Welt zum Teil verloren. Dadurch verringerten sich deren Chancen auf einen gesellschaftlichen Fortschritt und erhöhten sich die Risiken eines Scheiterns ihrer Reformprojekte. Deshalb sind Konzepte gefragt, wie deren Souveränität im Rahmen einer neuen regionalen oder globalen Friedensordnung wiederhergestellt werden kann.

Berlin, Deutschland

DIE POLITISCHE WILLENSNATION ALS FRIEDENSKONZEPT SEIT 1919

Das Konzept der Nation und ihres Nationalstaats in seiner heutigen Form geht auf die Vordenker und Aktivisten der Französischen Revolution (1789) zurück. Bis zu dieser Zeit bezeichnete „Nation“ eine Gemeinschaft von Mitgliedern der gleichen Herkunft oder Abstammung (vgl. lat. natio, abgeleitet vom Verb nasci – geboren werden). Von politischen Rechten der Nationsangehörigen war noch keine Rede, bis die gesellschaftlichen Umwälzungen Ende des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa zum Sturz der absolutistisch regierenden Monarchen führten. In den neuen konstitutionellen Monarchien oder Republiken konnte sich nun die „Nation“ zu einer politischen Größe entwickeln und das Recht einfordern, auch der höchste Souverän im Staat zu sein. Ein solches demokratisches Konzept etablierte sich jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg (1914-18), nachdem die europäischen Königshäuser trotz engster dynastischer Verbindungen ihre Völker bzw. angehenden Nationen in einen ruinösen Konflikt hineingetrieben und ihre Länder zu großen Teilen zerstört hatten.

Mit der Etablierung von Demokratien setzte sich Anfang des 20. Jahrhunderts europaweit die politische Willensnation durch, das folgende Kriterien erfüllt: Erstens sind alle Bürger vor dem Gesetz gleich, d. h. sie besitzen dieselben Rechte und Pflichten, ungeachtet ihrer sozialen Stellung und ihrer kulturellen, sprachlichen oder religiösen Orientierung. Damit wird zweitens dem Prinzip der Trennung von Politik und Kultur bzw. Religion Rechnung getragen und das Fundament für eine soziale Kohäsion gelegt, die den innergesellschaftlichen Frieden sichert. Drittens ist die gemeinsame Staatsbürgerschaft Ausdruck der Zugehörigkeit zu ihrer politischen Nation, die sich über Organe der repräsentativen Demokratie eine Verfassung gibt und weiterführende Gesetze beschließt.

Wiesbaden 2015, S. 32., zum Buch >

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT  EUROPAS, 2015

Das Staatsvolk als Souverän entscheidet schließlich auch über die Frage, unter welchen Voraussetzungen ausländische Staatsbürger der eigenen politischen Gemeinschaft beitreten können. Hierzu gehört nicht nur das Bekenntnis zur Demokratie, sondern auch die Frage, ob der Bewerber die materiellen Voraussetzungen mitbringt und über das nötige Wissen verfügt, um sich am politischen Willensbildungsprozess zu beteiligen.

Mit diesem Verfahren unterscheidet sich das Modell der politischen Willensnation von dem der Kulturnation, die sich zuallererst über eine kulturelle Verbundenheit definiert. Eine solche Kulturgemeinschaft wird von angeblich feststehenden Faktoren wie Abstammung, Herkunft, Sprache oder Religion abgeleitet. Nach diesem Modell ist der subjektive Wille bzw. das Zugehörigkeitsgefühl des betreffenden Menschen oftmals zweitrangig. Dadurch wirkt das Kulturnationsmodell über Staatsgrenzen hinweg und kann die Kohäsion politischer Willensgemeinschaften unterminieren (vgl. Abbildung unten).

Wie Länderbeispiele zeigen, wird das Kulturnationsmodell häufig von autoritären Systemen in Dienst genommen, während Demokratien politische Willensnationen darstellen, die ihre innovative Kraft aus dem kulturellen Pluralismus schöpfen. Hieraus entwickelt sich ein viertes Merkmal der politischen Nationen, nämlich der weitreichende Schutz ihrer Bürger vor Diskriminierungen, seien sie ethnischer, religiöser oder weltanschaulicher Natur. So hat sich z. B. in der Europäischen Union eine Antidiskriminierungsgesetzgebung etabliert, auf die sich jeder Bürger berufen kann – und nicht nur Angehörige bestimmter Minderheiten. Damit verliert der Begriff der Minderheit seine politische Brisanz, und so verringert sich das innergesellschaftliche Konfliktpotential.

»2.3.1 Der Aufstieg des politischen Nationskonzepts nach 1919

Um den alternativen Ansatz der Demokratien mit ihren politischen Willensnationen besser zu verstehen, sollen zwei wesentliche Faktoren zur Sprache kommen: Zum einen beruft sich das [Konkurrenz-]Modell der Kulturnation auf einen kulturellen Determinismus, wonach sich die Bevölkerung eines Staates entlang der Abstammung, Sprache oder Religion ausdifferenziert (hat). Zur Aufrechterhaltung des innergesellschaftlichen Friedens sollten gemäß dieser kulturellen Zugehörigkeiten politische Partizipationsrechte vergeben werden. In der Habsburgermonarchie eröffnete dieses Kulturnationsmodell seit 1867 marginalisierten Sprachgemeinschaften den Zugang zu Standesprivilegien von Adel und Kirchenfürsten. Dadurch entstand ein neuer Eliten-Pluralismus, der in die Machtstrukturen der konstitutionellen Monarchie eingebunden wurde und dafür sorgte, dass Forderungen nach weiteren politischen Reformen wie z. B. nach einer rechtlichen Gleichstellung aller Untertanen verebbten. Ein ähnliches Modell hatte das Osmanische Reich in Gestalt seines Milletsystems entwickelt [osm. millet = Religionsgemeinschaft], das den Religionsgemeinschaften eine Selbstverwaltung zugestand und so zur Loyalität gegenüber der Sultansherrschaft verpflichtete. Zum anderen lässt sich das Kulturnationsmodell für außenpolitische Ziele in Dienst nehmen, weil es auf die Bevölkerung benachbarter Länder ausstrahlt und so expansionistischen Zielen Vorschub leistet. Sein deterministischer Charakter entfaltet seine Wirkungskraft außerdem, wenn damit Forderungen der Kulturnation nach Gründung eines eigenen Nationalstaats legitimiert werden.

Das Kulturnationsmodell wurde nicht zuletzt im Ersten Weltkrieg als Waffe eingesetzt, um den Gegner politisch zu destabilisieren. So hatte das Deutsche Reich den Plan ausgearbeitet, Russland zu schwächen, indem es Forderungen seiner Nationalitäten nach staatlicher Unabhängigkeit unterstützte. Die sogenannte Dekomposition des Zarenreichs sollte im Baltikum beginnen und dort eine Kettenreaktion auslösen, sodass Pufferstaaten entstünden, die sich eine „ihren Verhältnissen und der Richtung ihrer Kultur“ entsprechende Staatsform geben sollten. Dieser Plan scheiterte allerdings an der Februarrevolution (1917), weil die neue provisorische Regierung allen Nationalitäten die rechtliche Gleichstellung zusicherte und diskriminierende Gesetze aufhob. In dieser labilen Phase beschloss Berlin, das Land von außen weiter zu „revolutionieren“. Es schleuste Wladimir Iljitsch Lenin aus seinem Schweizer Exil nach Russland ein, um die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker in die russische Revolution hineinzutragen. In den Jahren zuvor hatte er noch den Austromarxismus und seine These von der „national-kulturellen Autonomie“ als Übergangsphase zur Weltrevolution energisch bekämpft. Nun aber schien ihm der Zerfall des Russischen Reichs entlang ethnisch-kultureller Grenzen nicht schnell genug zu gehen. […]

Vgl. die Abbildungen in: (zum Buch >)

SABINE RIEDEL: DIE ERFINDUNG DER BALKANVÖLKER, 
VS-VERLAG, WIESBADEN 2005, S. 39

[…] Doch schon bald erwies sich der Rückgriff auf das Selbstbestimmungsrecht nur als ein taktisches Manöver, um die abtrünnigen Regionen Russlands für ein Bündnis gegen die provisorische Regierung zu gewinnen. Denn einmal an der Macht, begannen die Bolschewiki, die Begehrlichkeiten der Nationalitäten nach Unabhängigkeit einzudämmen und ihren Föderationsplan mit Gewalt durchzusetzen. Dabei übernahmen sie den Nationsbegriff als Kultur- bzw. Sprachgemeinschaft als Gegenmodell zur politischen Willensnation. […] Doch im Westen endete der Krieg in einer Niederlage für die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, sodass die Ausgestaltung der Nachkriegsordnung dort ganz wesentlich von den Alliierten bestimmt wurde, nämlich von Frankreich, Großbritannien, Italien und den USA.

Hierbei spielte das sogenannte 14-Punkte-Programm des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson aus dem Jahre 1918 eine wichtige Rolle. Auf dieses Dokument wird bis heute Bezug genommen, wenn vom Selbstbestimmungsrecht der Völker die Rede ist. Dabei wird Wilson unterschwellig das Kulturnationsmodell in den Mund gelegt und damit das Recht jeder „Nationalität“ auf einen eigenen Staat behauptet. In Wahrheit lag sein Fokus auf einer dauerhaften Nachkriegsordnung auf der Basis politischer Willensnationen. […] Als ein weiteres Indiz für den Durchbruch des Konzepts der politischen Willensnation lassen sich die Bestimmungen der Pariser Friedensverträge von 1919/20 zum Minderheitenschutz anführen. Denn darin ist von Angehörigen der Minderheiten und deren Individualrechten die Rede, die als gleichberechtigte Staatsbürger anerkannt wurden. […] Jene Bürger, die nicht zwischen ihrer Staatsangehörigkeit und ihrer kulturellen Orientierung trennen wollten, erhielten ein Optionsrecht. D. h., ihnen wurde die Möglichkeit gegeben, sich für eine andere Staatsbürgerschaft zu entscheiden oder sogar in das Land der Nationalität ihrer Wahl umzusiedeln.«

DIE ENTSTEHUNG DER DEUTSCHEN WILLENSNATION UND IHR VERFASSUNGSSTAAT HEUTE

Obwohl sich mit Gründung der Weimarer Republik (1919) auch in Deutschland ein demokratisches System etabliert hatte, blieb das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913 im 20. Jahrhundert gültig. Danach galt derjenige als Deutscher, der die Staatsangehörigkeit eines der 25 Teilstaaten des 1871 gegründeten Deutschen Reichs oder die unmittelbare Reichsangehörigkeit besaß. Somit behielten die Einwohner der verlorenen Gebiete von Elsass-Lothringen und der preußischen Provinzen Posen und Westpreußen ihr Recht auf den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg und weiteren deutschen Gebietsabtretungen an Polen verblieb dieses Recht auch bei der Bevölkerung in Schlesien und Ostpreußen, die nicht vertrieben worden oder nach Westen abgewandert war. Auch wenn das Recht, ein „Reichsdeutscher“ zu sein, an die Nachkommen übertragen wurde und somit das Abstammungsprinzip zur Wirkung kam, so bezog es sich doch auf eine politische Gemeinschaft. Aus diesem Grund haben die Nationalsozialisten im Jahre 1935 ein neues „Reichsbürgergesetz“ erlassen und den Begriff „Reichsdeutscher“ (im politischen Sinne) durch „Volksdeutscher“ ersetzt, durch den die Staatsbürgerschaft nun nach rassistischen und kulturalistischen Kriterien vergeben wurde. Diese Umdeutung machte Willkürmaßnahmen möglich, die deutschen Bürgern die Staatsbürgerschaft entzogen (wie z. B. der jüdischen Bevölkerung) oder Bevölkerungsgruppen außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs (1937) als „Deutsche“ deklarierte, um territoriale Besitzansprüche gegenüber Nachbarländern (z. B. Österreich) zu rechtfertigen.

Obwohl das „Reichsbürgergesetz“ der Nationalsozialisten im Jahre 1945 aufgehoben wurde, so erlebte der Begriff „Volksdeutscher“ durch das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) aus dem Jahre 1953 wieder auf. Im Gegensatz zum Grundgesetz-Artikel 116 (vgl. Abbildung rechts) wurden nun auch „deutsche Volkszugehörige“ als Vertriebene und Flüchtlinge anerkannt, die außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches (1937) leben (§ 1 Vertriebener). Bis heute können sich die Nachkommen von „Volkszugehörigen“ auf dieses Recht berufen und nach einem glaubhaften Bekenntnis zum „deutschen Volkstum“ (Merkmale: Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur) die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland erwerben (§ 6 Volkszughörigkeit). Auf dieser Rechtsgrundlage bekamen seit 1950 ca. 4,5 Millionen (Spät-)Aussiedler aus Osteuropa die deutsche Staatsbürgerschaft, darunter allein ca. 2 Millionen ehemalige Sowjetbürger, die erst nach 1990 nach Deutschland einwanderten. Die Gesamtzahl der Vertriebenen und Flüchtlinge war jedoch wesentlich höher. Schon in den ersten fünf Jahren nach Kriegsende waren ca. 8 Millionen nach Westdeutschland und ca. 4 Million nach Ostdeutschland gekommen. Im Zeitraum zwischen 1949 und 1989 flohen weitere 3,8 Millionen DDR-Bürger nach Westdeutschland. Insgesamt hat die Bundesrepublik Deutschland seit 1945 rund 16,5 Millionen Menschen deutscher Identität aufgenommen.

»2.3.1 Der Aufstieg des politischen Nationskonzepts nach 1919

»(1) Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.

(2) Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben.«

Aktuelle Einbürgerungsvoraussetzungen:

»Wer seit acht Jahren dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland lebt, hat unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Einbürgerung. Einbürgerungsvoraussetzungen sind grundsätzlich:

  • unbefristetes Aufenthaltsrecht zum Zeitpunkt der Einbürgerung,
  • Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit,
  • Nachweis über Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland (Einbürgerungstest),
  • eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts,
  • mündliche und schriftliche deutsche Sprachkenntnisse der Stufe B 1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen,
  • keine Verurteilung wegen einer Straftat,
  • Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes.«

Quelle: Bundesministerium des Inneren (2016)

Trotz der bevorzugten Einbürgerung von Einwanderern „deutscher Volkszughörigkeit“ ist die deutsche Staatsbürgerschaft Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Denn Ausländer können unter bestimmten Voraussetzungen Deutsche werden (vgl. links die aktuelle Gesetzeslage). Seit 1950 stieg die Zahl der Gastarbeiter kontinuierlich: Lag sie im Jahre 1967 unter 2 Millionen, verdoppelte sie sich in den 1970er Jahren auf 4 Millionen und überschritt Anfang der 1990er Jahre die 7-Millionen-Grenze. Heute liegt sie bei 9,1 Millionen (2016), wobei allein im Verlauf des Jahres 2015 offiziell 2,1 Millionen Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Zwischen 1981 und 2014 wurden ca. 4,5 Millionen Ausländer eingebürgert; derzeit sind es rund 110.000 jährlich (www.destatis.de). Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 wurde das Geburtsortprinzip eingeführt, wonach in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern Deutsche sind. Diese Neuregelung fördert die Integration und stärkt das Modell der politischen Willensnation. Sie wurde allerdings durch die Reform im Jahre 2014 abgeschwächt. Denn die Zulassung der doppelten Staatsbürgschaft macht aus integrierten Staatsbürgern wiederum Bindestrich-Deutsche (derzeit 4,3 Millionen). Dadurch lebt nicht nur das Modell der Kulturnation wieder auf, die sich durch sprachliche, religiöse oder andere kulturelle Zugehörigkeiten definiert. Es entstehen womöglich neue „Minderheiten“, die durch externe politische Akteure beeinflussbar sind.

Trotz der bevorzugten Einbürgerung von Einwanderern „deutscher Volkszughörigkeit“ ist die deutsche Staatsbürgerschaft Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft. Denn Ausländer können unter bestimmten Voraussetzungen Deutsche werden (vgl. links die aktuelle Gesetzeslage). Seit 1950 stieg die Zahl der Gastarbeiter kontinuierlich: Lag sie im Jahre 1967 unter 2 Millionen, verdoppelte sie sich in den 1970er Jahren auf 4 Millionen und überschritt Anfang der 1990er Jahre die 7-Millionen-Grenze. Heute liegt sie bei 9,1 Millionen (2016), wobei allein im Verlauf des Jahres 2015 offiziell 2,1 Millionen Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Zwischen 1981 und 2014 wurden ca. 4,5 Millionen Ausländer eingebürgert; derzeit sind es rund 110.000 jährlich (www.destatis.de). Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 wurde das Geburtsortprinzip eingeführt, wonach in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern Deutsche sind. Diese Neuregelung fördert die Integration und stärkt das Modell der politischen Willensnation. Sie wurde allerdings durch die Reform im Jahre 2014 abgeschwächt. Denn die Zulassung der doppelten Staatsbürgschaft macht aus integrierten Staatsbürgern wiederum Bindestrich-Deutsche (derzeit 4,3 Millionen). Dadurch lebt nicht nur das Modell der Kulturnation wieder auf, die sich durch sprachliche, religiöse oder andere kulturelle Zugehörigkeiten definiert. Es entstehen womöglich neue „Minderheiten“, die durch externe politische Akteure beeinflussbar sind.

KULTURELLE KONVERGENZ ZUGUNSTEN VON DEMOKRATIE UND RECHTSSTAATLICHKEIT

Das Phänomen der Konvergenz von Gesellschaftssystemen wurde von Sozialwissenschaftlern bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet. Dabei gilt der russisch-amerikanische Soziologe Pitirim A. Sorokin als Begründer der Konvergenztheorie, die er erstmals in seinem Werk „Russland und die Vereinigten Staaten“ beschrieb, das er im Jahre 1944 in New York publizierte. Seine wissenschaftliche Karriere als Soziologe begann er noch im zaristischen Russland, wo er sich in der Februarrevolution (1917) für die sozialdemokratische Kerenski-Regierung (Menschewiki) engagierte. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki bzw. der Kommunistischen Partei wurde er verfolgt und musste deshalb sein Heimatland verlassen. Nachdem er über Europa in die USA ausgewandert war, erhielt er im Jahre 1930 von der Universität Harvard eine Professur für Soziologie und begann vergleichende Studien über die sowjetische und US-amerikanische Gesellschaft. Dabei entdeckte er, dass sich die beiden konkurrierenden Systeme trotz der großen Unterschiede allmählich annäherten, sowohl in ihrer sozioökonomischen als auch in ihrer politischen Entwicklung. Doch schenkte die Wissenschaft seiner Konvergenztheorie kaum Beachtung und ignorierte sie sogar gänzlich mit Beginn des Kalten Krieges im Jahre 1947.

Dennoch setzte er seine Forschung fort und widmete sich dem Phänomen der kulturellen Konvergenz auf globaler Ebene. Dabei betrachtet er Kulturen als offene Systeme, die sich gegenseitig beeinflussen und durchdringen, auch wenn sie sich voneinander (ideologisch) abgrenzen. Auslöser hierfür seien sogenannte »Kongerenzen« oder »Konglomerate«, d.h. zu Deutsch »Anhäufungen« oder »Ansammlungen« von Kulturerscheinungen, die von Einzelnen oder von Gruppen über Ländergrenzen und soziale Schichten hinweg aufgenommen werden. In seinem Buch »Kulturkreise und Gesellschaftsphilosophie (dt. 1953, engl. 1951) schreibt Sorokin: „Kulturerscheinungen verbreiten sich und wandern von ihrem Ursprungsort längs aller bestehenden Kommunikationslinien – Straßen, Eisenbahnen, Radio, Flugzeug, Telephon, Fernsehen etc. Diese Linien bestimmen es zum guten Teil, wieso eine in Paris erfundene neue Mode schneller nach New York gelangt als in ein kleines Dorf unweit von Paris; warum die Städte fremden Kultureinflüssen stärker ausgesetzt sind als die ländlichen Bezirke, weshalb fremde Kulturen in den Seehäfen, großen Verkehrszentren etc. stärker verbreitet sind usw.« Damit nahm Sorokin eine Kulturkreisdebatte vorweg, die der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington in den 1990er Jahren angestoßen hat. Während sich Sorokin allerdings für konvergierende Entwicklungen über Systemgrenzen hinweg interessierte, richtete Huntington seinen Fokus auf angeblich unüberwindbare kulturelle Differenzen.

Eine gewisse Popularität erlangte die Konvergenztheorie Anfang der 1960er Jahre durch den Wirtschaftswissenschaftler Walt W. Rostow, der als Sicherheitsberater des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson auch eine politische Karriere machte. In Anlehnung an Sorokins Forschungen war er der Ansicht, dass die Sowjetunion einen ähnlichen Industrialisierungsprozess durchmache wie die USA und drei Jahrzehnte später dasselbe Produktionsniveau erreichen werde. Ihr anderes ökonomisches und politisches System würde diese Entwicklung vielleicht verzögern, aber nicht aufhalten. Diesen Gedanken griffen zwei Nobelpreisträger für Wirtschaft auf und entwickelten ihn weiter, nämlich der US-Amerikaner John K. Galbraith und der Niederländer Jan Tinbergen. Sie suchten nach entsprechenden Strukturelementen, die nicht nur ihre Entwicklungsprognose belegen, sondern auch den Prozess der Systemkonvergenz nachweisen, d. h. den Prozess der wechselseitigen Einflussnahme und systemischen Angleichung. Ihre Untersuchungen führten sie zu der Erkenntnis, dass sich in den Planwirtschaften sowjetischen Typs allmählich eine „Technostruktur“ herausbilde, die aus Funktionären der großen Staatsbetriebe bestehe. Diese würde immer mehr Kompetenzen einfordern und sich auf diesem Wege allmählich der staatlichen Einflussnahme und Kontrolle entziehen. In Marktwirtschaften dagegen entstünden immer größere Unternehmen, die sich infolge ihrer Monopolstellung über Marktgesetze hinwegsetzten. Ihr Management sei daher immer stärker auf Planungs- und Steuerungselemente angewiesen, wie sie in Zentralverwaltungswirtschaften zum Einsatz kommen.

In Osteuropa stieß die Konvergenztheorie auf brüske Ablehnung, nicht zuletzt weil sie ein Scheitern der Kommunistischen Partei in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und ihre Ablösung durch eine technokratische Elite vorhersagte. Besonders gefährlich erschien diese These deshalb, weil sie ähnlich der sozialistischen Ideologie mit ökonomischen Entwicklungstendenzen argumentierte. Deshalb bemühten sich die damaligen Regierungseliten, diese Theorie als „pseudo-materialistisch“ und als ideologisches Instrument des Systemgegners abzuqualifizieren. Doch ebenso auf westlicher Seite verlor dieser Ansatz bald an Aufmerksamkeit, weil sich in der Wissenschaft Skeptiker durchsetzen. So hielten z. B. Samuel Huntington und Zbigniew Brzeziński eine Demokratisierung Osteuropas für unmöglich. Dabei dürfte eine Rolle gespielt haben, dass die Konvergenztheorie auch für den Westen eine Systemveränderung vorhersagte, die man nicht thematisieren wollte. Denn ihre Vertreter hielten eine Einflussnahme der Planwirtschaften Osteuropas auf den Westen ebenso für möglich wie Fehlentwicklungen innerhalb von demokratischen Systemen und Marktwirtschaften.

AUSZUG AUS: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT EUROPAS, 2015

Wiesbaden 2015, S. 249 f.,  zum Buch >

»4.6.2 Kulturelle Konvergenzen: Ein kurzes Resümee dieses Buches/

[…] Nicht ohne Grund hat eine Reihe westeuropäischer Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg das Projekt der Europäischen Integration aufgegriffen und in einem neuen Wertehorizont verortet: Mit der Gründung des Europarats im Jahre 1949 wurden die Prinzipien der staatlichen Souveränität, der rechtlichen Gleichstellung sowie der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wieder in den Mittelpunkt gestellt. Diese neue politische Kooperation wurde schon bald zu einem Konkurrenzprojekt zum Bündnissystem der Sowjetunion. Denn während des Kalten Kriegs standen die Staaten Osteuropas unter direkter Kontrolle der kommunistischen Parteien, insbesondere der KPdSU. Diese sowjetische Vorherrschaft sollte sich erst mit Beginn des KSZE-Prozesses im Jahre 1975 allmählich abschwächen und schließlich unter Michail Gorbačëvs Politik der Glasnost und Perestrojka zu Ende gehen. So bemühte sich eine Reihe kommunistischer Staaten Osteuropas schon vor dem Fall der Berliner Mauer um demokratische Reformen mit dem Ziel, alsbald in den Europarat aufgenommen zu werden. Sie erhofften sich von einer Mitgliedschaft Bestätigung und Schutz für ihre zurückgewonnene staatliche Souveränität. In diesem Fall bahnte sich also zwischen Ost- und Westeuropa eine kulturelle Konvergenz an, die eine neue europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands begründet und auf Dauer gefestigt hätte.

Nachdem sich der Europarat Anfang der 1990er zum Hauptansprechpartner der Reformstaaten Osteuropas entwickelt und die meisten von ihnen schließlich aufgenommen hatte, geriet vielerorts der angekündigte Demokratisierungsprozess ins Stocken. Hauptursache hierfür war der wachsende ökonomische Druck infolge der Transformationsprozesse ihrer Wirtschaftssysteme durch Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen. Dieser ergab sich durch die Aussicht auf einen Beitritt in die Europäische Union (EU), der schon Mitte der 1990er Jahre nach dem Abschluss von Assoziierungsverträgen greifbar nahe schien. Doch wie die politischen Reformen zuvor wurde auch dieser ökonomische Systemwandel im Wesentlichen von den alten Parteikadern selbst in die Hand genommen. Gerade in diesem Punkt sollten sich die Analysen der Konvergenztheoretiker der 1960 und 70er Jahre in ihrer ganzen theoretischen Tiefe bestätigen. Denn ihre Prognosen hatten richtig vorgesehen, dass sich in den Planwirtschaften Osteuropas eine Managerschicht verselbstständigt hatte, die zwar noch den jeweiligen kommunistischen Parteien angehörte, sich jedoch nicht mehr von den staatlichen Verwaltungen kontrollieren ließ. Diese neue „Technostruktur“ profitierte im höchsten Maße von der eingesetzten „Schocktherapie“ mit ihrem abrupten Systemwechsel, für den es noch keine adäquaten rechtlichen Rahmenbedingungen gab und dessen Risiken und Schuldenberge von der öffentlichen Hand übernommen werden mussten. […]

QUELLE: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT EUROPAS, WIESBADEN 2015, S. 259F.

[…] Mit dem übereilten EU-Beitritt der Reformstaaten Osteuropas wird ein kulturelles Paradigma sichtbar, das als eine neue systemübergreifende Konvergenz betrachtet werden kann: die Suche der Nationalstaaten nach einer Anbindung an größere Wirtschafts- und Währungsräume. Problematisch an diesem Phänomen ist weniger der Zusammenschluss starker Ökonomien wie der zwischen Mitgliedstaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) mit der Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) im Jahre 1979. Kritikwürdig scheint dagegen die Aufnahme oder enge Anbindung schwacher Staaten und ihrer Wirtschaftsräume, weil diese dazu gezwungen werden, Grundwerte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit oder auch Prinzipien wie die der Tarifautonomie wirtschaftspolitischen Prioritäten zu opfern. Dass heute ausgerechnet die schwachen Reformstaaten Osteuropas den Beitritt zur Eurozone suchen und laut den EU-Verträgen suchen müssen, mag man als den Versuch interpretierten, mögliche Währungsspekulationen abzuwehren. Die Griechenlandkrise wie auch die jüngsten Entwicklungen im bulgarischen Bankensektor zeigen jedoch, dass sie sich als schwächste Glieder des Euro(vor)raums für Spekulanten noch attraktiver gemacht haben. […]

Wie das letzte Beispiel besonders deutlich zeigt, kann sich das Phänomen der kulturellen Konvergenz sowohl negativ als auch positiv auf die europäischen wie auch auf andere Gesellschaften auswirken. Entscheidend ist, sich dieser Entwicklungen bewusst zu sein und Strategien zu entwickeln, die den eigenen demokratischen Werten gerecht wird. In diesem Sinne lassen sich die innovativen Potentiale der Kultur als lernendes System und gesellschaftliches Korrektiv entfalten und nutzen. Wird Kultur dagegen als ein starres museales und tradiertes System wahrgenommen, wird sie kaum Lernprozesse anstoßen. Offen bleibt letztlich die Frage, ob sich die Europäer noch ihrer eigenen Werte und ihrer historischen Zusammenhänge bewusst sind. Vor allem aber stehen Demokratien vor dem Dilemma, dass konkurrierende Regierungsformen kaum Vorwürfe des Demokratiedefizits erheben. Deshalb sind sie umso mehr auf die Kritik seitens ihrer Bündnispartner angewiesen. Dies ist nicht zuletzt der entscheidende Grund dafür, dass sich die Europäische Union auch gegenüber den Vereinigten Staaten emanzipieren und lernen muss, eigene Interessen zu formulieren und auf diplomatischem Wege durchzusetzen.«

DER BUNDESSTAAT ALS INNERSTAATLICHER SCHLICHTUNGSMECHANISMUS

Das Modell des Bundesstaates – auch Föderation genannt – entstand in Europa im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunächst auf dem Weg des Zusammenschlusses von Einzelstaaten zu einem gemeinsamen Staatswesen. Im 20. Jahrhundert entdeckten schließlich Zentralstaaten das föderale Modell als ein Reformprojekt, weil sie in der Dezentralisierung ihres Landes eine Möglichkeit sahen, Regionalkonflikte zu lösen oder gar einen drohenden Staatszerfall abzuwenden. Die typischen Beispiele für den ersten Weg sind die Schweiz und das Deutsche Reich, die vor ihrer Staatsgründung im Jahre 1815 bzw. 1871 noch einen Staatenbund (auch Konföderation) bildeten. In diesem Stadium besaßen ihre jeweiligen Mitglieder noch eine eigene staatliche Souveränität. Erst mit der Abgabe der Entscheidungskompetenzen ihrer Regierungen auf eine neue bundesstaatliche Ebene wurde aus dem jeweiligen Staatenbund ein Bundesstaat (vgl. Abbildung unten). So sprechen bis heute Föderationen in internationalen Organisationen wie z. B. in den Vereinten Nationen nur mit einer Stimme. Nach diesem Kriterium ist ersichtlich, dass die Europäische Union (EU) kein souveräner (Einzel-)Staat ist, sondern nach den Worten der deutschen Gesetzgebung lediglich einen Staatenverbund darstellt. Denn seine Mitgliedstaaten haben nur auf bestimmten Politikfeldern einen gemeinsamen Gesetzesrahmen entwickelt. Andere Politikfelder sind dagegen entweder nicht vergemeinschaftet (z. B. die Außen- oder Kulturpolitik) oder werden gemeinsam von EU-Institutionen (EU-Parlament, Europäischer Rat und EU-Kommission) und den Regierungen der Mitgliedstaaten geregelt (z. B. die Asyl- und Migrationspolitik).

Würde sich die EU von einem Staatenverbund in einen gemeinsamen föderalen Staat verwandeln wollen, stünden ihr theoretisch vier verschiedene Modelle von Bundesstaaten zur Auswahl. Allerdings hat sich keiner der politischen Akteure, die aus der EU einen Staat machen wollen, darüber Gedanken gemacht. Die wissenschaftliche Analyse konkreter Länderbeispiele kann jedoch zeigen, dass sich allein in Europa die Föderationen durch zwei Kriterien unterscheiden. Zum einen spielt es eine Rolle, wie die innerstaatlichen föderalen Grenzen gezogen wurden. Dies kann zum einen nach verwaltungspolitischen Kriterien geschehen, wie z. B. in Deutschland oder Österreich, oder aber nach kulturellen bzw. sprachlichen Merkmalen wie z. B. in Belgien oder in Bosnien-Hercegovina. Dort konstituieren bzw. definieren sich die Teilstaaten über ihre kulturelle Differenz, die sich sowohl sprachlich als auch durch die Religionszugehörigkeit äußern kann. Das zweite Kriterium betrifft die Rechte der föderalen Glieder eines Bundesstaates. Hier unterscheidet man zwischen einem Modell, das den Teilstaaten eine sogenannte eingeschränkte Völkerrechtssubjektivität zugesteht, und dem Modell ohne Sonderrechte. Diese würden den Gliedstaaten den Abschluss internationaler Verträge erlauben, natürlich nur unter Zustimmung der Bundesebene. Während z. B. die Bundesrepublik Deutschland ihren Ländern diese Möglichkeit zugesteht, kennen Kanada oder die Vereinigten Staaten (USA) derartige außenpolitische Mitspracherechte nicht.

Diese modelltheoretische Analyse ist für die Friedens- und Konfliktforschung von großer Bedeutung. Denn mittlerweile lässt sich empirisch nachweisen, dass Föderation, deren innerstaatliche Grenzen auf ethnisch-kulturellen, sprachlichen bzw. religiösen Differenzen basieren, labil sind. Unter bestimmten Umständen können sich politische Akteure diese Differenzen zunutze machen, um ihre partiellen Interessen zu verfolgen. Dabei stellen sie diese Unterschiede meist als Ursache gesellschaftlicher Spannungen dar, obwohl sie eigentlich auf politische (Fehl-)Entscheidungen zurückzuführen sind. Damit verschärfen sie die Konfliktlage, so dass die innergesellschaftlichen Kohäsionskräfte für den Bundesstaat allmählich schwinden und sich Sezessionsforderungen breit machen. Dagegen besitzen Föderationen, deren Grenzen nicht entlang sprachlicher oder religiöser Identitäten gezogen wurden sondern auf historisch gewachsene, administrative Strukturen basieren, einen stabileren innerstaatlichen Konfliktmechanismus. Diese föderale Struktur bietet vor allem externen Einflusskräften keine Legitimationsbasis, um im Namen einer bestimmten sprachlichen oder religiösen Gruppe zu sprechen oder zu intervenieren

QUELLE: SABINE RIEDEL: DIE KULTURELLE ZUKUNFT EUROPAS, WIESBADEN 2015, S. 259F.

Wiesbaden 2015, S. 249 f.,  zum Buch >

Auszug, S. 25:

»Erfahrungen aus den Sezessionskonflikten im EU-Nachbarschaftsraum [S. 27 f.]

Ohne Zweifel haben auch die vier untersuchten Sezessionskonflikte am Rande der Europäischen Union [Zypern, Bosnien-Hercegovina, Moldau, Ukraine] jeweils ihre eigene Geschichte, eine spezifische Konfliktkonstellation und ein besonderes internationales Umfeld. Dennoch lassen sich in vergleichender Perspektive einige Erkenntnisse gewinnen, die allgemeine Schlussfolgerungen zulassen. Letztere können in acht Punkten zusammengefasst werden:

  • Hat eine Region ihre Unabhängigkeit erst einmal erklärt, ist es schwerer, eine Konfliktlösung zu finden. Denn zu diesem Zeitpunkt muss die internationale Staatengemeinschaft bereits über eine mögliche Anerkennung entscheiden. Dadurch erhöht sich die Zahl der Länder, die über eine Friedenslösung verhandeln.
  • Das spricht letztlich für Präventionsmaßnahmen im Vorfeld des Sezessionskonflikts. Doch ist dafür ein innerstaatlicher Schlichtungsmechanismus nötig, den es entweder (noch) nicht gibt oder der nicht mehr funktioniert. Über Föderationspläne könnte ein solcher Mechanismus implementiert werden.
  • Ist die Sezession vollzogen, können externe Kräfte die Rolle des Schlichters übernehmen und eine Lösung des ursprünglich innerstaatlichen Konflikts anstoßen. Doch nicht immer erweist sich der Einfluss externer Akteure als stabilisierend; schließlich haben sie ihre regionalen oder globalen Eigeninteressen.
  • In den untersuchten Beispielen haben Nachbarstaaten die Sezession ausgelöst. Deshalb wurden sie in die Friedensverhandlungen einbezogen. Doch das reicht nicht aus, um ein Föderationsmodell erfolgreich zu implementieren (wie die Dayton-Verfassung für Bosnien-Hercegovina von 1995 zeigt). Die Nachbarn müssen sich bereit erklären, die Souveränität des neuen Bundesstaates zu respektieren (wie im Falle des Annan-Plans für Zypern von 2004).
  • Nachbarstaaten nehmen über Ethnizität, Muttersprache oder Religionszugehörigkeit oftmals Einfluss auf separatistische Akteure und Regionen. Als stabilisierend erweisen sich deshalb die Bundesstaaten-Modelle A und D [vgl. Abbildung. 1 oben], bei denen kulturelle Elemente keine Rolle für die Wahrnehmung der Selbstverwaltungsrechte der Gliedstaaten spielten (wie beim Kiewer Dokument für die Republik Moldau, 2002).
  • Alle vier untersuchten Länder sind selbst durch Sezession aus einem Vorgängerstaat (Zypern: Großbritannien) oder einer Föderation (Bosnien-Hercegovina: Jugoslawien; Moldau und Ukraine: Sowjetunion) hervorgegangen. Angesichts solcher Erfahrungen bevorzugen die meisten Länder Europas als Staatsform den Zentralstaat, der für manche ohne Autonomiestatute bleiben soll. Denn auch diese können – wie im Fall der Krim – ein Sprungbrett in die Eigenstaatlichkeit sein.
  • Diese skeptische bis ablehnende Haltung gegenüber Autonomien und föderalen Modellen deckt sich nicht mit den Zielen der europäischen Integration, die auf dem Prinzip der Subsidiarität und der regionalen Selbstverwaltung beruht. Das haben die EU-Mitglieder den Ländern des Nachbarschaftsraumes nicht hinreichend deutlich gemacht, auch nicht jenen, die mittlerweile der EU assoziiert sind.
  • Die abtrünnigen Regionen wollen als Völkerrechtssubjekt anerkannt werden. Doch keine von ihnen konnte dieses Ziel mit der Sezession erreichen. Daher ist denkbar, dass sie sich für die Rückkehr in ein föderales System gewinnen lassen, wenn ihr Gliedstaat eine eingeschränkte Völkerrechtssubjektivität erhalten würde (Bundesstaat D). […]

QUELLE: SABINE RIEDEL: FÖDERALISMUS STATT SEPARATISMUS. POLITISCHE INSTRUMENTE ZUR LÖSUNG VON SEZESSIONSKONFLIKTEN IN EUROPA,

in: SWP-Studie, S 5, April 2016, Berlin, S. 25, zur Studie  >

[…] Schlussfolgerungen für eine friedensfördernde Europapolitik

Wie es scheint, spielt die Europäische Union in aktuellen Sezessionskonflikten eine ambivalente Rolle. Einerseits fördert sie die EU-Assoziierung der betreffenden Staaten mit dem Argument, damit werde eine gute ökonomische Grundlage zur Konfliktlösung geschaffen. In der Folge fehlt es dann aber an geeigneten politischen Instrumenten, um tatsächlich positiv auf den Friedensprozess und die Implementierung von Föderationsplänen einzuwirken. Jüngstes Beispiel dafür ist Bosnien-Hercegovina. Die Assoziierung des Landes mit der EU wurde 2015 in Kraft gesetzt, ohne dass die bosnischen Parteien ihr ethnisch-nationales Proporzsystem aufgeben mussten. Eine solche Reform wird aber schon seit Jahren vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingefordert, weil die gegenwärtige Rechtslage gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt und die Mitgliedschaft Bosnien-Hercegovinas im Europarat gefährdet. Die EU ist ganz offensichtlich nicht in der Lage, außenpolitisch mit einer Zunge zu sprechen und gemeinsam kohärente Konzepte zu entwickeln. Dieses Defizit bietet einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die EU-Institutionen zu nutzen, um gleichsam über Bande ihre nationalen Interessen in Konfliktregionen durchzusetzen. Dadurch wird die EU zu ihrem eigenen Schaden in die Konflikte hineingezogen.

Während die EU außenpolitisch derzeit ausgesprochen schwach dasteht und zusehen muss, wie sich in ihrem Nachbarschaftsraum die Gefahr instabiler und zerfallender Staatlichkeit erhöht, beweisen ihre Mitgliedstaaten mehr Geschick in Konfliktsituationen. Die Beispiele Großbritannien und Spanien zeigen, wie wichtig präventive Maßnahmen sind, um innerstaatliche Konflikte zu entschärfen. Nötig dafür sind funktionierende Schlichtungsmechanismen, wie zum Beispiel eine intakte Parteienkonkurrenz, faire Wahlen und Volksbefragungen, sowie entsprechende Dialog-Angebote. Auch wenn in den schwebenden Sezessionskonflikten mit Schottland und Katalonien nicht alle Instrumente erschöpfend eingesetzt wurden, haben politische und gesellschaftliche Akteure doch den Föderationsgedanken belebt, ohne dass es externer Hilfestellung bedurfte. Dabei wird jeweils eine Staatsreform in Erwägung gezogen, die das Autonomiesystem mit seinen rechtlichen Asymmetrien durch einen Bundesstaat ersetzen könnte.

Diese innergesellschaftlichen Reformdebatten einiger EU-Mitglieder könnten Thema eines europäischen Diskurses werden. Zum einen zeigt sich hier die Fähigkeit demokratischer Strukturen, Krisen aus eigener Kraft zu meistern und daraus zu lernen. Zum anderen bestätigen diese Beispiele, wie effektiv der Subsidiaritätsgedanke der EU tatsächlich ist – die Maxime also, dass zentralstaatliche oder gar von Brüssel aus gesteuerte Entscheidungen nur dann zum Zuge kommen sollen, wenn die unteren Verwaltungsebenen mit der jeweiligen Aufgabe überfordert sind. Deshalb könnte ein europäischer Erfahrungsaustausch über die Wirkungsweise föderaler Staatsmodelle einen Wissenstransfer anstoßen. Dieser sollte die Reformkräfte innerhalb der EU-Staaten ermutigen, ihre eigenen Schlichtungsmechanismen zu stärken und so präventiv weiteren Abspaltungsszenarien zu begegnen. Schließlich dürfte ein solcher Diskurs dazu beitragen, dass die EU-Mitglieder bei der Bewältigung von Sezessionskonflikten in ihrem Nachbarschaftsraum an einem Strang ziehen und die Implementierung geeigneter Föderationsmodelle unterstützen. Damit würde die EU ihr außenpolitisches Profil schärfen und an Gestaltungsspielraum zur Konfliktlösung gewinnen.«

QUELLE: SABINE RIEDEL: FÖDERALISMUS STATT SEPARATISMUS. POLITISCHE INSTRUMENTE ZUR LÖSUNG VON SEZESSIONSKONFLIKTEN IN EUROPA,

in: SWP-Studie, S 5, April 2016, Berlin, S. 27 f., zur Studie  >

AKTUELLES BEISPIEL FÜR EINE FÖDERALISMUSDEBATTE IN EUROPA: DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH

Das Schottlandreferendum vom 19.9.2014 hat in der britischen Öffentlichkeit eine kontroverse Diskussion über das britische Autonomiemodell ausgelöst. Die Anhänger der Regionalisierung/Devolution aus dem Lager der Labour Party waren bis dahin der Meinung, dass ihre Politik schon zu einer Föderalisierung des Landes geführt hätte. Nun wurde offenbar, dass es lediglich um die Erweiterung einer der drei Regionalautonomien ging. Damit traten die Asymmetrien zwischen Schottland, Nordirland, Wales und England deutlicher zu Tage. Ein föderales System zeichnet sich dagegen durch andere Kriterien aus: Zum einen müssten alle Regionen gleichermaßen über ein Parlament mit Gesetzgebungskompetenzen verfügen. Zum anderen bedarf es auf gesamtstaatlicher Ebene neben der Abgeordnetenversammlung einer zweiten Länderkammer, in der ähnlich dem deutschen Bundesrat, alle Länder bzw. Regionen vertreten sind.

Die konservative Regierung hat dieses Defizit aufgegriffen und hierzu Reformvorschläge entwickelt. So brachte Premierminister David Cameron nicht nur einen verbesserten Scottland Act (2016) auf den Weg. Nach seiner Wiederwahl im Mai 2015 ging er auch die sogenannte West Lothian Question, d. h. die „Englische Frage“ an, die seit rund zwei Jahrzehnten schwelt. Englische Abgeordnete des Unterhauses störte es, dass Iren, Schotten und Waliser über die Belange der insgesamt neun englischen Regionen mitentscheiden, während sie selbst über Autonomierechte verfügen und ohne Engländer Regionalpolitik betreiben können. Dem sollte die Gesetzesinitiative „English Votes for English Laws (EVEL)” Abhilfe schaffen. Danach könnten sich demnächst die 533 Abgeordneten Englands in einem „English Grand Committee“ zusammenfinden, falls es um ihre regionalen Interessen geht.

Obwohl das Gesetz bereits mit einer Mehrheit von 312 gegen 270 Stimmen angenommen wurde (22.10.2015), hat es noch weitere Hürden zu überwinden. Denn es berührt erklärtermaßen die „Zukunft der Union“, d. h. den Staatsaufbau des gesamten Vereinigten Königreichs. Deshalb erhalten Vorschläge zur Einführung eines föderalen Modells derzeit eine besondere Aufmerksamkeit. Ein Forum hierfür bieten wissenschaftliche Institute wie die London School of Economics oder der Think Tank The Federal Trust (http://fedtrust.co.uk/). Doch auch Politiker plädieren bereits für eine Reform des Unionsgesetzes (Act of Union). Hierzu gehört z. B. Peter Hain, ehemaliger Labour-Abgeordnete und heutiges Mitglied des britischen Oberhauses. Er gründete im Jahre 2015 eine parteiübergreifende Initiative, um für ein föderales Modell in Großbritannien zu werben. Auch wenn diese schon mit konkreten Vorschlägen aufwartet, so sieht sie den Motor für eine Verfassungsänderung in einem Bottom-up-Ansatz und damit in einem Prozess der demokratischen Willensbildung.

QUELLE: SABINE RIEDEL: EIN BREXIT OHNE SCHOTTEN UND NORDIREN? GROSSBRTITANNIEN DROHT DER STAATSZERFALL – HINTERGRÜNDE UND AUSWEGE

in: SWP-Aktuell, A 54, August 2016, Berlin, S. 6, zum Aktuell > 

SICHERUNG DES FRIEDENS DURCH ÜBERLAPPENDE INTEGRATIONSRÄUME

»Während der Europarat mit seiner Europäischen Menschenrechtskonvention sozusagen das politische Gewissen Europas darstellt, gibt es auf der wirtschaftlichen Ebene keinen entsprechenden gesamteuropäischen Kooperationsrahmen. Deshalb befindet sich die EU bislang in einer nahezu konkurrenzlosen Position. Die meisten Staaten im EU-Nachbarschaftsraum streben eine Assoziierung mit dem Wunsch an, sich dieselbe Beitrittsperspektive zu verschaffen wie die ehemaligen osteuropäischen Reformstaaten der EU. Wie ihre Vorgänger erhoffen auch sie sich Beitrittshilfen, die ihre Wirtschaften ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen.

Doch im Gegensatz zu den Staaten der EU-Osterweiterung haben die heutigen Länder des EU-Nachbarschaftsraums allesamt nur wenig demokratische Erfahrungen. Bis zum Wendejahr 1991 waren die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien Sowjetrepubliken und die Jahrhunderte davor überwiegend kultureller und politischer Bestandteil des Russischen Reiches. Die Westbalkanländer blieben ebenfalls bis zum Ende des letzten Jahrhunderts im Machtwechsel von absolutistischen Monarchien zu sozialistischen Diktaturen gefangen. Das Verständnis einer modernen Staatlichkeit, die zentralstaatliche Macht nach dem demokratischen Prinzip verteilt und an regionale und kommunale Akteure abgibt, kann sich erst seit rund zwei Jahrzehnten entwickeln.

Bisher erweisen sich ihre neuen politischen Systeme als äußerst labil, sodass sie auch in absehbarer Zeit ein zentrales Kriterium für den anvisierten EU-Beitritt nicht erfüllen werden, nämlich: »stabile Institutionen, die Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten garantieren«. Im Gegenteil ist ihr Staatsverständnis überwiegend von einer kulturellen Exklusion geprägt, die große Bevölkerungsgruppen an einer angemessenen politischen Teilhabe hindert. Dies provoziert Gegenbewegungen, die separatistische Forderungen aufstellen und die staatliche Einheit auch gewaltsam in Frage stellen. So leiden nicht nur die (potenziellen) Kandidatenländer Türkei, Bosnien-Hercegovina und die Republik Makedonien, sondern auch die neu assoziierten Staaten wie die Ukraine, die Moldau und Georgien unter großen innerstaatlichen Spannungen.

Das häufig vorgebrachte Argument, die EU-Anbindung würde eine »zivilisierende Wirkung« auf diese Länder entfalten, kann durch die bisherigen Erfahrungen nicht bestätigt werden. So ist z. B. die Republik Makedonien schon seit 14 Jahren assoziiertes EU-Mitglied, dennoch kam es Anfang Mai 2015 zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, die eine erneute Zuspitzung des Konflikts befürchten lassen. Selbst die Türkei, mit der schon seit 2003 EU-Aufnahmeverhandlungen geführt werden, sieht sich trotz ihrer neuen Minderheitenpolitik mit einem gewaltsamen kurdischen Separatismus konfrontiert […]. Schließlich konnten auch die jüngsten EU-Assoziierungsverträge mit der Ukraine und der Moldau die dortigen Sezessionsprozesse weder aufhalten noch rückgängig machen […]. Im Gegenteil muss sich Brüssel heute fragen lassen, ob es nicht zu deren politischer Polarisierung beigetragen hat. Schließlich verlangt es ihnen eine Militär- und Wirtschaftskooperation ab, die sich konfrontativ gegen Russland und somit gegen einen Kulturraum richtet, dem sie Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte angehörten.

Diese neuen Assoziierungsverträge leiden demnach unter dem konzeptionellen Defizit, dass sie die Staaten im EU-Nachbarschaftsraum gegenüber Dritten abschotten, statt deren Rolle als Brückenbauer zu unterstreichen und zu festigen. Hinzu kommt, dass der neue EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Jahre 2014 mit dem Versprechen gewählt wurde, »dass in den nächsten fünf Jahren […] keine Erweiterung der Europäischen Union erfolgen wird«. Aus Sicht der EU mag dies eine sinnvolle und rationale Entscheidung sein, um den eigenen Konsolidierungsprozess voranzubringen. Doch aus der Perspektive von Staaten, die ihre Beziehungen zu ihren bisherigen Partnern abgebrochen oder eingefroren haben, um den EU-Assoziierungsstatus zu erhalten, ist dies ein enttäuschendes Signal. Wie die aktuellen Entwicklungen zeigen, entfaltet dies eher eine destabilisierende Wirkung, die mit immer neuen Krediten allein nicht aufgefangen werden kann. Vielmehr ist ein innovatives Konzept erforderlich, das diesen Ländern im EU-Nachbarschaftsraum mehr eigene Handlungsspielräume eröffnet.

Ein solcher Ansatz wäre, die EU-assoziierte Mitgliedschaft aufzuwerten, indem Brüssel auf ab- und ausgrenzende Elemente seiner Assoziierungsverträge verzichtet. Den Staaten des EU-Nachbarschaftsraums sollte also die Möglichkeit gegeben werden, sich gleichzeitig auch anderen regionalen Kooperationsinitiativen anzuschließen, z. B. der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) oder auch der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Bei der Erarbeitung eines solchen Konzepts zur Entwicklung überlappender Integrationsräume kann die EU sogar aus ihren eigenen Erfahrungen schöpfen: Denn sie nahm bisher keinerlei Anstoß an der Mitarbeit ihrer Mitglieder Dänemark, Schweden und Finnland im Nordischen Rat, der auch eine spezielle Wirtschaftskooperation ermöglicht (vgl. Art. 18-25). Das Konzept überlappender Integrationsräume in Europa würde nicht nur in Brüssel für Entlastung sorgen, sondern auch die Selbstverantwortung und Eigeninitiative der EU-assoziierten Mitglieder stärken.

Natürlich stecken auch hier Probleme im Detail. So weisen Ökonomen auf den Unterschied zwischen Freihandelszonen und einer weiter reichenden Zollunion hin. Denn die Ukraine stand im Jahre 2013 scheinbar vor der Alternative: Entweder entscheidet sie sich für ein Freihandelsabkommen mit der EU, das eine allmähliche Zollfreiheit für bestimmte Waren anstrebt, oder aber sie schließt sich der Zollunion mit der heutigen Eurasischen Wirtschaftsunion an. Sowohl Moskau wie auch Brüssel setzten die Ukraine unter Druck. Vor allem die EU-Kommission argumentierte, dass beide Mitgliedschaften unvereinbar seien. Dabei gab man aber leichtfertig politische Gestaltungsspielräume aus der Hand, die eine Konfrontation vermieden hätten. Denn es gibt hierfür konkrete Gegenbeispiele: So ist die EU z. B. im Jahre 2000 mit der Republik Südafrika ein Freihandelsabkommen eingegangen, obwohl Pretoria der Zollunion des südlichen Afrika (Southern African Customs Union, SACU, gegründet 1910) angehört. Zugegebenermaßen betrat die EU dadurch Neuland, weil sie das Freihandelsabkommen als ein Instrument der Entwicklungspolitik erproben wollte. Warum war die EU nicht bereit, im Falle der Ukraine, derartige kreative Vorschläge zu prüfen, zumal das Verhältnis zur Ukraine und Russland politisch wesentlich mehr Gewicht hat als das zu Südafrika?“ […]

AKTUELLES BEISPIEL FÜR EINE FÖDERALISMUSDEBATTE IN EUROPA: DAS VEREINIGTE KÖNIGREICH

Das Schottlandreferendum vom 19.9.2014 hat in der britischen Öffentlichkeit eine kontroverse Diskussion über das britische Autonomiemodell ausgelöst. Die Anhänger der Regionalisierung/Devolution aus dem Lager der Labour Party waren bis dahin der Meinung, dass ihre Politik schon zu einer Föderalisierung des Landes geführt hätte. Nun wurde offenbar, dass es lediglich um die Erweiterung einer der drei Regionalautonomien ging. Damit traten die Asymmetrien zwischen Schottland, Nordirland, Wales und England deutlicher zu Tage. Ein föderales System zeichnet sich dagegen durch andere Kriterien aus: Zum einen müssten alle Regionen gleichermaßen über ein Parlament mit Gesetzgebungskompetenzen verfügen. Zum anderen bedarf es auf gesamtstaatlicher Ebene neben der Abgeordnetenversammlung einer zweiten Länderkammer, in der ähnlich dem deutschen Bundesrat, alle Länder bzw. Regionen vertreten sind.

4.5  OSZE stärken und ausbauen: Aufgaben des deutschen Vorsitzes in 2016

Aus dieser verpassten Chance für eine engere Wirtschaftskooperation auf gesamteuropäischer Ebene sind neue sicherheitspolitische Probleme erwachsen. Denn die jüngste politische Polarisierung zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Russland gab separatistischen Tendenzen in den ukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk Auftrieb. Damit stieg die Zahl jener Regionen, die sich von ihren Staaten abgespalten haben, ohne eine allgemein anerkannte eigene Souveränität zu erreichen: Bosnien-Hercegovina steht noch immer unter einer internationalen Treuhänderschaft. Auch dem Kosovo (ehem. serbische Provinz), Nordzypern (Republik Zypern), Transnistrien (Republik Moldau), Abchasien und Südossetien (Georgien) blieb bislang eine solche Anerkennung vonseiten der Mehrheit der internationalen Staatengemeinschaft versagt. Sie wurden zu sogenannten De-facto-Regimen, die nur eine partielle Völkerrechtssubjektivität besitzen. D.h. sie können zwar Verträge schließen, aber nicht als vollwertige Mitglieder in internationalen Organisationen mitwirken. Aus diesem Grund sind fragile Staaten ein großes Sicherheitsrisiko. Die Europäische Sicherheitsstrategie (12.3.2003) rechnet neben dem Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, Regionalkonflikten und der Organisierten Kriminalität den »Zusammenbruch von Staaten« zu den fünf Hauptbedrohungen des 21. Jahrhunderts:

»Schlechte Staatsführung – Korruption, Machtmissbrauch, schwache Institutionen und mangelnde Rechenschaftspflicht – sowie zivile Konflikte zersetzen Staaten von innen heraus. Dies kann zum Zusammenbruch der staatlichen Institutionen führen: Afghanistan unter dem Taliban-Regime ist hierfür ein bekanntes Beispiel. Der Zusammenbruch von Staaten ist ein alarmierendes Phänomen, das die Weltordnungspolitik untergräbt und die regionale Instabilität vergrößert.«

Deshalb stehen die EU-Mitgliedstaaten heute vor dem besonderen Dilemma, dass sie mit ihrer derzeitigen Assoziierungspolitik genau diese Risiken selbst fördern. Denn die abtrünnigen Provinzen der Ukraine, der Moldau oder Georgiens kommen ja infolge ihrer Sezession nicht in den Genuss der zugesagten EU-Hilfen. Dadurch vergrößern sich aber die ökonomischen Ungleichgewichte zu ihren Mutterstaaten, was eine Wiedervereinigung erschwert, die man politisch eigentlich einfordert. Die Republik Zypern ist geradezu ein Paradebeispiel für dieses Paradoxon. Im Vorfeld ihrer EU-Mitgliedschaft hieß es, die Integration würde sich bald als Magnet für den abtrünnigen türkischsprachigen Norden des Landes erweisen. Doch genau im Gegenteil vertiefte sich die wirtschaftliche und politische Teilung der Insel seit dem EU-Beitritt des überwiegend griechischsprachigen Teils.

Deshalb wäre es eine überlegenswerte Strategie, zur Lösung von Sezessionskonflikten auch abtrünnigen Regionen Hilfen unter bestimmten Rahmenbedingungen zuzusagen: So dürften Verhandlungen nicht als Vorstufe zu einer politischen Anerkennung verstanden werden, sodass die Mutterstaaten sich dem nicht verschließen. Vielmehr sollten sich die betreffenden Regionen im Gegenzug zu Gesprächen über eine Rückkehr in den Gesamtstaat verpflichten, der ebenfalls Zugeständnisse z. B. im Rahmen einer Staatsreform machen müsste. Gleichzeitig sollte man mit Russland darüber sprechen, wie man diese politisch und ökonomisch instabilen Regionen des EU-Nachbarschaftsraums zu einem Nukleus überlappender Integrationsräume entwickeln könnte, die sowohl mit der EU als auch mit der Eurasischen Union assoziiert wären. Strategisches Ziel müsste es sein, nach einer staatlichen Wiedereingliederung dieser De-facto-Regime auch die jeweiligen Mutterstaaten den überlappenden Integrationsräumen anzuschließen, sodass sie auf diesem Weg eine Art Brückenfunktion übernehmen würden. [Vgl. die Abbildung oben, insbesondere CEFTA und GUAM als Integrationsräume zwischen EU, EEU und ECO]

Der geeignete institutionelle Rahmen für die Entwicklung eines Konzepts überlappender Integrationsräume wäre die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Denn sie erwies sich im Fall der Ukraine als einziger Akteur, der die Autorität besaß, die Konfliktparteien an einen gemeinsamen Verhandlungstisch zu bringen. Angesichts der kontroversen Diskussionen über die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen wäre eine Erweiterung der Lösungskonzepte um die sozioökonomische Dimension sinnvoll und notwendig. Denn ohne eine konkrete wirtschaftliche Perspektive und Anreize für die abtrünnigen Regionen wird jeder erzielte Kompromiss brüchig bleiben.

Die Minsker Gespräche haben ein weiteres Defizit deutlich gemacht: Trotz OSZE fehlt es an einem Sicherheitskonzept auf gesamteuropäischer Ebene. Nach dem Kaukasuskrieg zwischen Georgien und Russland im Sommer 2008 haben führende Mitglieder der heute 57 OSZE-Staaten ihr Engagement sukzessive heruntergefahren. Sie beschuldigten sich gegenseitig, die Überwachungsmissionen in Krisengebieten für eigene Interessen eingespannt zu haben. Russland verstärkte daraufhin sein Engagement für den Aufbau eines neuen gesamteuropäischen Regimes kollektiver Sicherheit. Doch schon der erste Vertragsentwurf (29.11.2009) stieß in den USA und in den EU-Mitgliedstaaten auf Vorbehalte. Sie befürchten, hinter dem russischen Vorschlag könne sich eine »versteckte Agenda« verbergen, die den Status quo festige. Dies würde neuere Tendenzen im Völkerrecht ignorieren, nämlich am Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen und am Souveränitätsprinzip der Staaten zu rütteln. Deshalb sollten bestehende Kooperationsrahmen wie die OSZE oder der NATO-Russland-Rat genutzt und ausgebaut werden.

Dieser neue Kurs im Völkerrecht, in bestimmten Fällen durch »humanitäre Interventionen« die Souveränität von Staaten infrage zu stellen, hat in den letzten Jahren aber eher zum Staatszerfall beigetragen oder ihn sogar erst ausgelöst, wie im Falle des Irak oder Libyens. Dabei konnten die intervenierenden Staaten ihr Versprechen schlichtweg nicht einlösen, nach ihren Interventionen für einen Wiederaufbau zu sorgen. So ist bislang noch kein Ende der Folgewirkungen abzusehen, sondern mit weiteren Millionen von Flüchtlingen zu rechnen. Angesichts dieser enttäuschenden Erfahrungen erscheint der Vorschlag Russlands zum Aufbau eines kollektiven Sicherheitssystems, das auf dem Souveränitätsprinzip der Staaten und der Unverletzlichkeit der Grenzen basiert, in einem neuen Licht und sollte noch einmal geprüft werden.

Zwar haben sich die Voraussetzungen dafür infolge der Ukrainekrise eher verschlechtert. Doch gerade weil ohne Russland weder dieser Konflikt gelöst noch der Syrienkrieg beendet werden kann, bleibt die OSZE derzeit der entscheidende politische Rahmen. Deutschland könnte unter seinem Vorsitz einen Konsultationsprozess anstoßen, um die OSZE zu einem neuen Regime kollektiver Sicherheit auszubauen. Dies entspräche nicht nur den bisherigen Vorstellungen der westlichen Staaten, sondern würde offensichtlich auch auf die Zustimmung Russlands stoßen. Im Rahmen einer solchen strategischen Neuausrichtung sollte auch über eine neue sicherheitspolitische Rolle der OSZE-Mittelmeerpartnerschaft nachgedacht werden. Wenn dabei Jordanien, Syrien und Libyen miteinbezogen werden könnten, die bereits in der Mittelmeerunion ihren Platz haben […], gäbe es reale Möglichkeiten, nicht nur Themen wie »Migration/Menschenhandel, Terrorismus, Radikalisierung, Medienfreiheit« zu behandeln,  sondern auch den voranschreitenden Staatszerfall in Nordafrika und im Nahen Osten aufzuhalten.

Bedenkenträgern sei entgegengehalten: Den Grundstein für den KSZE-Prozess legten Anfang der 1970er Jahre der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt und sein Minister Egon Bahr. Sie waren die Architekten einer neuen Entspannungspolitik, die auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs die Hardliner auf Seiten der USA und der Sowjetunion an den Verhandlungstisch brachten. Angesichts der heutigen globalen Krisensituation könnte sich die deutsche Außenpolitik erneut bewähren und zur Sicherung des Weltfriedens beitragen.«